Die unendliche Geschichte
jemand kreuz und quer ein paar schwarze Federn gesteckt hat, antwortete mit krächzender Stimme (er war Fachmann für Erkältungskrankheiten):
»Sie hustet nicht, sie hat keinen Schnupfen, es ist überhaupt keine Krankheit im medizinischen Sinne.«Er rückte an der großen Brille auf seinem Schnabel und blickte die Umstehenden herausfordernd an.
»Eines scheint mir jedenfalls offensichtlich«, summte ein Skarabäus (ein Käfer, der auch manchmal »Pillendreher« genannt wird), »zwischen ihrer Krankheit und den furchtbaren Dingen, die uns die Boten aus ganz Phantasien melden, besteht ein geheimnisvoller Zusammenhang.«
»Ach Sie«, warf ein Tintenmännchen spöttisch ein, »Sie sehen ja immer und überall geheimnisvolle Zusammenhänge!«
»Und Sie sehen niemals über den Rand Ihres Tintenfasses!« surrte der Skarabäus erbost. »Aber meine Herrn Kollegen!« wimmerte ein hohlwangiges Gespenst dazwischen, das in einem langen weißen Kittel steckte, »wir wollen doch nicht in unsachliche, persönliche Auseinandersetzungen geraten. Und vor allem - dämpfen Sie Ihre Stimmen!« Solche und ähnliche Unterhaltungen fanden überall in dem großen Thronsaal statt. Vielleicht mag es verwunderlich scheinen, daß so verschiedenartige Wesen sich überhaupt miteinander verständigen konnten. Aber in Phantasien waren fast alle Wesen, auch die Tiere, mindestens zweier Sprachen mächtig: Erstens der eigenen, die sie nur mit ihresgleichen redeten und die kein Außenstehender verstand, und zweitens einer allgemeinen, die man Hochphantäsisch oder auch die Große Sprache nannte. Sie beherrschte jeder, wenngleich manche sie in etwas eigentümlicher Weise benützten.
Plötzlich trat Stille im Saal ein, und aller Augen wandten sich nach der großen Flügeltür, die geöffnet wurde. Herein trat Caíron, der berühmte und sagenumwobene Meister der Heilkunst. Er war, was man in älteren Zeiten einen Zentauren genannt hat. Er hatte menschliche Gestalt bis zur Hüfte, der übrige Teil war der Körper eines Pferdes. Doch Caíron war ein sogenannter Schwarz-Zentaur. Er war aus einer sehr fernen Gegend gekommen, die weit, weit im Süden lag. So war sein menschlicher Teil ebenholzfarben, nur sein Haupthaar und sein Bart waren weiß und kraus, sein Pferdekörper jedoch war gestreift wie bei einem Zebra. Er trug einen seltsamen Hut aus Binsengeflecht. Um seinen Hals hing an einer Kette ein großes goldenes Amulett, auf dem zwei Schlangen zu sehen waren, eine helle und eine dunkle, die einander in den Schwanz bissen und ein Oval bildeten.
Bastian hielt überrascht inne. Er klappte das Buch zu - nicht ohne vorsorglich den Finger zwischen den Seiten zu lassen - und schaute noch einmal ganz genau auf den Einband. Da waren doch die beiden Schlangen, die sich in den Schwanz bissen und ein Oval bildeten! Was mochte dieses seltsame Zeichen wohl bedeuten?
Jeder in ganz Phantasien wußte, was dieses Medaillon bedeutete: Es war das Zeichen dessen, der im Auftrag der Kindlichen Kaiserin stand und in ihrem Namen handeln konnte, so als sei sie selbst anwesend.
Es hieß, daß es dem Träger geheimnisvolle Kräfte verlieh, obgleich niemand genau wußte welche. Seinen Namen kannte jeder: AURYN.
Aber viele, die sich scheuten, diesen Namen auszusprechen, nannten es »das Kleinod« oder auch »das Pantakel« oder nur einfach »der Glanz«.
Also trag auch das Buch das Zeichen der Kindlichen Kaiserin!
Ein Wispern lief durch den Saal, und einige Ausrufe des Staunens waren zu hören. Es war schon lange nicht mehr vorgekommen, daß jemandem das Kleinod anvertraut worden war. Caíron stampfte einige Male mit den Hufen, bis sich die Unruhe gelegt hatte, dann sagte er mit tiefer Stimme:
»Freunde, verwundert euch nicht allzusehr, ich trage AURYN nur für kurze Zeit. Ich bin nur der Überbringer. Bald werde ich >den Glanz< einem Würdigeren übergeben.« Atemlose Stille hatte sich im Saal ausgebreitet.
»Ich will unsere Niederlage nicht mit schönen Worten zu mildern versuchen«, fuhr Caíron fort. »Wir alle stehen der Krankheit der Kindlichen Kaiserin ratlos gegenüber. Wir wissen nur, daß die Vernichtung Phantásiens mit dieser Krankheit zugleich gekommen ist. Mehr wissen wir nicht. Nicht einmal, ob es überhaupt ärztliche Kunst ist, die sie retten könnte. Aber es ist möglich - und ich hoffe, daß es keinen von euch beleidigt, wenn ich es offen ausspreche - es ist möglich, daß wir, die wir hier versammelt sind, nicht alle Kenntnisse, nicht alle Weisheit
Weitere Kostenlose Bücher