Die unendliche Geschichte
lange. Der Drache konnte auch im Schlaf fliegen, weiter, immer weiter, und Atreju nickte bisweilen ein, festgeklammert in die weiße Mähne des Drachen. Aber es war nur ein leichter und unruhiger Schlaf. Und deshalb wurde auch sein Wachen nach und nach zu einem Traum, in dem nichts mehr deutlich war.
Unten in der Tiefe zogen schattenhaft Gebirge vorüber, Länder und Meere, Inseln und Flüsse… Atréju gab nicht mehr acht darauf und trieb auch sein Reittier nicht an, wie er es in der ersten Zeit getan hatte, als sie vom Südlichen Orakel aufgebrochen waren. Anfangs war er noch ungeduldig gewesen, denn er hatte geglaubt, auf dem Rücken eines Glücksdrachen könne es nicht allzu schwierig sein, Phantásiens Grenze zu erreichen - und hinter der Grenze das Äußere Reich, wo die Menschenkinder wohnen.
Er hatte nicht gewußt, wie groß Phantasien war.
Nun kämpfte er gegen die steinerne Müdigkeit an, die ihn bezwingen wollte. Seine dunklen Augen, sonst scharf wie die eines jungen Adlers, nahmen keine Ferne mehr wahr. Ab und zu raffte er seinen ganzen Willen zusammen, richtete sich im Sitzen hoch auf und spähte umher, aber schon bald sank er wieder in sich zusammen und starrte nur noch vor sich hin auf den langen, geschmeidigen Drachenleib, dessen perlmuttcrfarbene Schuppen rosig und weiß glitzerten. Auch Fuchur war erschöpft. Selbst seine Kräfte, die unermeßlich geschienen hatten, gingen nun nach und nach zu Ende.
Mehr als einmal hatten sie bei diesem langen Flug jene Stellen unter sich in der Landschaft gesehen, wo das Nichts sich ausbreitete, und auf die man nicht hinsehen konnte, ohne das Gefühl zu haben, erblindet zu sein. Viele dieser Stellen schienen aus solcher Höhe gesehen noch verhältnismäßig klein, aber es gab auch schon andere, die groß waren wie ganze Länder und sich über den weiten Horizont erstreckten. Schrecken hatte den Glücksdrachen und seinen Reiter erfaßt, und sie waren ausgewichen und in anderer Richtung weitergeflogen, um das Entsetzliche nicht anschauen zu müssen. Aber es ist eine seltsame Tatsache, daß das Entsetzliche seine Schrecken verliert, wenn es sich immer wiederholt. Und da die Stellen der Vernichtung nicht weniger wurden, sondern mehr und mehr, hatten sich Fuchur und Atréju nach und nach daran gewöhnt - oder vielmehr, es war eine Art Gleichgültigkeit über sie gekommen. Sie achteten kaum noch darauf.
Sie hatten schon seit langer Zeit nicht mehr miteinander gesprochen, als Fuchur plötzlich seine bronzene Stimme vernehmen ließ:
»Atréju, mein kleiner Herr, schläfst du?«
»Nein«, sagte Atréju, obwohl er tatsächlich in einem bangen Traum befangen gewesen war, »was gibt es, Fuchur?«
»Ich frage mich, ob es nicht klüger wäre, umzukehren.«
»Umzukehren? Wohin?«
»Zum Elfenbeinturm. Zur Kindlichen Kaiserin.«
»Du meinst, wir sollen unverrichteter Dinge zu ihr kommen?«
»Nun, so würde ich es nicht nennen, Atréju. Wie lautete denn dein Auftrag?« »Ich sollte erforschen, was die Ursache der Krankheit ist, an der die Kindliche Kaiserin dahinsiecht, und welches Heilmittel es dagegen gibt.«
»Aber es war nicht dein Auftrag«, versetzte Fuchur, »dieses Heilmittel selbst zu bringen.« »Wie meinst du das?«
»Vielleicht begehen wir einen großen Fehler, indem wir versuchen, Phantásiens Grenze zu überschreiten, um ein Menschenkind zu suchen.«
»Ich verstehe nicht, worauf du hinauswillst, Fuchur. Erkläre mir das genauer.« »Die Kindliche Kaiserin ist todkrank«, sagte der Drache, »weil sie einen neuen Namen braucht. Das hat dir die Uralte Morla verraten. Aber diesen Namen geben, das können nur die Menschenkinder aus der Äußeren Welt. Das hat dir die Uyulála offenbart. Damit hast du deinen Auftrag erfüllt, und mir scheint, du solltest dies alles bald der Kindlichen Kaiserin berichten.«
»Aber was hilft es ihr«, rief Atréju, »wenn ich ihr all das nur mitteile und nicht gleichzeitig ein Menschenkind mitbringe, das sie retten kann?«
»Das kannst du nicht wissen«, antwortete Fuchur. »Sie vermag sehr viel mehr als du und ich. Vielleicht wäre es ihr ein leichtes, ein Menschenkind zu sich zu rufen. Vielleicht hat sie Mittel und Wege, die dir und mir und allen Wesen Phantâsiens unbekannt sind. Aber dazu müßte sie eben wissen, was du nun weißt. Nimm einmal an, es wäre so. Dann wäre es nicht nur ganz unsinnig, daß wir auf eigene Faust versuchen, ein Menschenkind zu finden und zu ihr zu bringen, es wäre sogar möglich, daß sie
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