Die Unersättlichen: Ein Goldman-Sachs-Banker rechnet ab (German Edition)
dem Text die größte öffentliche Resonanz verschaffen, aber ich kannte dort niemanden, an den ich den Text hätte senden können. Auf der Website war nur eine allgemeine E-Mail-Adresse angegeben. In dem Bewusstsein, mein Schicksal in die Hände der Zeitungsgötter zu legen, und mit dem Gefühl, eine unwiderrufliche, aber völlig richtige Entscheidung zu treffen, klickte ich auf die Schaltfläche «Senden».
Einen Monat hörte und las ich nichts. Mein Text war ganz offensichtlich in den Weiten des Äthers verschollen. Mir war klar, dass ich bessere Chancen hätte, wenn ich den Beitrag an bestimmte Leute schicken würde. Also suchte ich die E-Mail-Adressen des leitenden Wirtschaftsredakteurs sowie der drei Verantwortlichen für die Meinungsseite heraus. Am Abend des 7. März 2012 versandte ich den Beitrag, noch einmal überarbeitet und auf 1300 Wörter gekürzt, an die vier Redakteure.
Am nächsten Morgen hatte ich meine Antwort.
Die New York Times wollte den Text auf ihrer Meinungsseite bringen, auf der die Gastbeiträge erscheinen. Ich sagte den Redakteuren, dass ich darauf bestehen müsste, dass der Text so veröffentlicht würde, wie ich ihn geschrieben hätte. Ich hatte praktisch fünf Monate daran gefeilt, um aus den ursprünglich 5000 Wörtern das herauszudestillieren, was ich sagen wollte. Von dieser Fassung war ich hundertprozentig überzeugt, und ich wollte nicht, dass eine gekürzte oder zensierte Version gedruckt wurde. Ich ging ein großes Risiko ein, und dies war der einzige Schuss, den ich hatte.
Die erste Fassung, die ich zurückbekam, war von 1300 auf 800 Wörter zusammengestrichen worden. Ich protestierte. Ich verlangte, dass gestrichene Stellen wieder eingefügt wurden. Meines Erachtens waren sie für meine Argumentation unverzichtbar. Nun kam der Text mit 1000 Wörtern zurück. Dann mit 1100. Schließlich hatte der Beitrag wieder fast genau den gleichen Umfang wie der Text, den ich ursprünglich eingeschickt hatte.
Während ich noch immer als Derivate-Trader bei Goldman Sachs London arbeitete, wurde mein Artikel unter strengster Geheimhaltung weiterhin redigiert. Dann kam eine ungewöhnliche Bitte vonseiten der Redakteure.
«Wir müssen überprüfen, ob Sie tatsächlich die Person sind, als die Sie sich ausgeben. Wir beabsichtigen, einen unserer Reporter zur Niederlassung von Goldman London zu schicken. Er soll sich dort mit Ihnen treffen, damit wir hundertprozentig sicher sein können, dass Sie uns die Wahrheit über Ihre Identität gesagt haben.»
«Wie stellen Sie sich das vor?», sagte ich. «Ich lege Ihnen gern alle Beweise vor, die Sie benötigen. Aber es ist eine absurde Idee, dass ein Reporter der New York Times am Empfang der Zentrale von Goldman Sachs London auftaucht, um dort nach mir zu fragen.»
Es hörte sich an wie eine Szene aus einem Spionagefilm.
«Keine Sorge, der Mitarbeiter wird sehr diskret sein.»
Die Times schickte einen ihrer Londoner Wirtschaftsreporter, Landon Thomas jr., um zu überprüfen, ob ich auch tatsächlich derjenige war, als der ich mich ausgab, und dass ich nicht in einen Skandal verwickelt war, nichts, was dem Ruf der altehrwürdigen Zeitung schaden könnte. Thomas, der seit zehn Jahren im Auftrag der New York Times über Goldman Sachs berichtete, kam zum Empfang in der Fleet Street 120.
Wir hatten abgesprochen, dass er am Montag, den 12. März, um 9 : 30 Uhr nach mir fragen würde. Dann würde mich die Rezeptionistin anrufen, ich würde herunterkommen und ihn in der Lobby treffen. Wir hatten nicht besprochen, ob er seinen richtigen Namen nennen würde, aber zu meiner Überraschung erhielt ich genau um 9 : 30 Uhr einen Anruf von der Rezeption: «Landon Thomas erwartet Sie hier.»
«Ich komme sofort», sagte ich.
Ich ging zu den Waschräumen auf unsere Etage, um mir kaltes Wasser ins Gesicht zu spritzen. «Das dürfte interessant werden», dachte ich. Interessant? Beispiellos! Ich ging hinunter, ruhig und gelassen. Ich sah einen hochgewachsenen Mann mit Umhängetasche – Landon. Ich ging geradewegs auf ihn zu, und wir schüttelten uns in der Lobby von Goldman Sachs die Hände. «Freut mich, Sie kennenzulernen», sagte er lächelnd.
«Haben Sie vielleicht Lust auf einen Kaffee?», fragte ich.
Wir gingen die Fleet Street entlang, entfernten uns von der Paulskathedrale. Ich schlug vor, dass wir nicht zur nächstgelegenen Starbucks-Filiale gingen, sondern zu einer, die etwas weiter weg war. Wir spazierten etwa zehn Minuten und plauderten
Weitere Kostenlose Bücher