Die Unersättlichen: Ein Goldman-Sachs-Banker rechnet ab (German Edition)
konnte jungen Leuten wirklich nicht länger mit gutem Gewissen raten, bei Goldman Sachs zu arbeiten.
Wie in New York findet auch in London regelmäßig ein vierteljährliches sogenanntes «Townhall Meeting» statt, in dem die Leiter der verschiedenen Abteilungen die Quartalsergebnisse kommentieren und über die allgemeine Wettbewerbslage sprechen. Tausend Mitarbeiter, vom Junior Analyst bis zum Partner, versammeln sich zu diesem Zweck im Konferenzsaal im siebten Stock des River-Court-Gebäudes in der Fleet Street 120. Weitere tausend Teilnehmer aus allen europäischen Niederlassungen sind per Videokonferenz zugeschaltet. Im Anschluss an diese Treffen, die in der Regel etwa eine Stunde dauern, stehen immer etwa fünfzehn Minuten für einfache Fragen zur Verfügung – etwa: «Was sind die zukünftigen Prioritäten der Firma?», oder: «Wie schätzen wir die Wettbewerber ein?»
Ein paar Monate vor meinem Ausscheiden wurde das Meeting gemeinsam von den Co-CEOs von Goldman Sachs Europe, Michael «Woody» Sherwood und Richard Gnodde, dem südafrikanischen Investmentbanking-Chef, moderiert. Sie standen links und rechts auf der großen Bühne. Als die Fragezeit zu Ende ging, stand eine Frau im Publikum auf und sagte: «Was unternimmt das Management gegen den Niedergang der Firmenkultur und die Tatsache, dass unser Ruf immer schlechter wird?»
Absolute Stille breitete sich im Saal aus. Woody und Gnodde waren einen Moment sprachlos, nicht nur weil jemand so dreist war, diese Frage zu stellen, sondern auch weil sie ganz offensichtlich nicht wussten, was sie darauf antworten sollten. Die beiden Männer wechselten unsichere Blicke. Schließlich sagte Woody: «Richard, wollen Sie diese Frage übernehmen?»
Die Szene hatte etwas Surreales. Nervöses Lachen ertönte im Saal.
Gnodde, ein hochgewachsener, kräftiger Mann mit einem großen, freundlichen Gesicht, sagte: «Na klar, Woody, mach ich.» Er senkte eine Sekunde lang den Blick und wandte sich dann dem Publikum zu. Er fing an: «Wir haben gerade diese sechzigseitige Studie zur Geschäftspraxis veröffentlicht …» Die Firmenkultur, sagte er, sei so stark wie eh und je, im gesamten Unternehmen würden Seminare veranstaltet, um dafür zu sorgen, dass die Mitarbeiter die Ergebnisse der Studie verstünden und deren Empfehlungen in die Tat umsetzten. Er redete noch ein, zwei Minuten weiter, in einem herablassenden Ton, als würde er einer unverbesserlichen Querulantin die offensichtlichsten Tatsachen vor Augen führen.
Aber die Frau ließ sich nicht abspeisen. Sie legte noch eins drauf. «Was unternimmt das Management aber konkret , um dieses Problem, das so viele Menschen hier umtreibt, zu beheben?»
Wieder Schweigen. Dann nahm Woody den Ball auf. Er wurde philosophisch. «Hören Sie», sagte er. «Wir bei Goldman Sachs sind eine große Familie. Wir alle haben Familie, und wir alle sind Menschen. Wir müssen uns nur daran erinnern, auch in geschäftlichen Dingen gute, ethische Entscheidungen als Menschen zu treffen, so wie wir es in unserem Alltagsleben tun.»
Es gab hier und da halbherzigen Applaus, und die Versammlung wurde für beendet erklärt. Alle verließen das Meeting in gedrückter Stimmung.
Es war wirklich höchste Zeit, dass ich ging.
Etwa fünf Monate bevor ich die Firma verließ, begann ich zu schreiben. Ich wusste tief im Inneren, dass bei Goldman Sachs grundlegende Dinge im Argen lagen – das skrupellose Verhalten vieler Mitarbeiter, ihre Gleichgültigkeit gegenüber den möglichen Konsequenzen ihres Tuns und die Einstellung gegenüber den Kunden. Ich ahnte intuitiv, dass dies schlecht für die Zukunft der Firma war, für die ich mich mit Leib und Seele eingesetzt hatte. Ich wusste, dass es für mich an der Zeit war zu gehen – die Unzufriedenheit der jungen Mitarbeiter sagte es mir, das Misstrauen der Kunden sagte es mir. Aber am meisten sagte es mir die Tatsache, dass es der Firma letztlich egal war, was da vor sich ging. Schreiben war für mich ein Weg, mir selbst Klarheit darüber zu verschaffen, was genau schieflief. Ich erinnerte mich, wie Carly Fiorina vor über einem Jahrzehnt den frischgebackenen Stanford-Absolventen empfohlen hatte, Sachverhalte auf das Wesentliche zu reduzieren. Zum Kern vorzustoßen.
In Flugzeugen, in Flughafen-Lounges und in Hotelzimmern, aber auch in meiner Wohnung zu später Stunde versuchte ich schriftlich festzuhalten, was genau die Kultur jenes Unternehmens vergiftete, das mir am Herzen lag. Zuerst waren die
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