Die Unersättlichen: Ein Goldman-Sachs-Banker rechnet ab (German Edition)
Gedanken weitschweifig und verschlungen. Ich ging meine Aufzeichnungen immer wieder durch und versuchte, den Kern meiner Gedanken herauszupräparieren.
Während der ersten zwei oder drei Monate wollte mir das nicht gelingen. Das Schreiben half mir aber zu erkunden, was genau ich eigentlich wollte. Irgendwann war ich drauf und dran, mich von Goldman Sachs einfach sang-und klanglos zu verabschieden, mich aus dem Staub zu machen und das ganze System einfach weiter verkommen zu lassen. Aber dann kamen mir Bedenken. Das wäre nicht der richtige Weg. Richtig wäre es, wenigstens den Versuch zu machen, das System zu ändern – zumal die Partner, mit denen ich gesprochen hatte, zweifelsohne nichts unternehmen würden. Wenn sich die Unternehmenskultur der Firma schon nicht von innen heraus ändern ließe, so dachte ich, könnte ein Wandel vielleicht von außen angestoßen werden. Ich beschloss, einen Kommentar oder Essay zu verfassen, einen Text, der Menschen bewusst vor Augen führen sollte, wie es zugeht in der Finanzwelt, und der vielleicht den einen oder anderen zum Umdenken bringen würde.
Mein Essay schwoll rasch auf dreitausend, dann fünftausend Wörter an. Ich wusste, dass ich ihn auf eine Kernbotschaft reduzieren musste. Und die war? Dass Goldman Sachs und die Wall Street unseren eigentlichen Auftrag – dem Kunden zu dienen – aus den Augen verloren hat. Dass der Niedergang der Kultur die Firma und die ganze Branche in ihrer Existenz bedroht. Wenn der Kunde den Banken nicht mehr vertraut, hat dies verheerende Folgen. Der Text nahm Gestalt an … Ich glaube, ich habe lange genug hier gearbeitet, um die Entwicklung der Kultur, der Mitarbeiter und der Identität der Firma beurteilen zu können. Und ich kann voller Überzeugung sagen, dass die Atmosphäre in der Bank so vergiftet und zerstörerisch ist, wie ich es noch nie erlebt habe.
Ich rief meinen besten Freund an, Lex, und sprach mit ihm über meine Überlegung, Goldman Sachs zu verlassen. Ich sagte ihm nicht konkret, dass ich an einem Text arbeitete, aber ich wollte von ihm wissen, ob es seines Erachtens einen moralischen Wert habe, wenn ich die Gründe für meinen Schritt, die Missstände, die ich seit langem beobachtete, öffentlich darlegen würde. Ich wollte wissen, ob er glaubte, dass ich etwas bewirken könnte.
Lex war einer der wenigen Menschen, von denen ich sicher sein konnte, dass sie absolut verschwiegen waren. Wir kannten uns sehr lange, und wir hatten einander immer beigestanden. Lex wusste, wie sich meine Einstellung während meiner Karriere geändert hatte. Im Verlauf des letzten Jahres hatte ich ihm mehrfach von meinem wachsenden Frust in der Firma erzählt.
Lex legte mir eindringlich nahe, nicht an die Öffentlichkeit zu gehen. «Die Dinge, die du ansprichst, sind durchaus relevant, aber du nimmst es da mit einem übermächtigen Gegner auf», sagte er. «Ich mache mir Sorgen um deine persönliche Sicherheit und das juristische Nachspiel, das auf dich zukommen könnte. Du musst an dich denken. Es ist das Risiko nicht wert.»
Ich ließ seine Worte auf mich wirken. Es war ein Sonntag, und ich war in einem Restaurant in Smithfield unweit der City. Ich versuchte so diskret wie möglich in mein iPhone zu sprechen.
«Du musst an dich denken», fuhr Lex fort. «Vielleicht bleibt es völlig unbeachtet, und dann hast du deine Karriere kaputtgemacht und musst schwere finanzielle Einbußen hinnehmen, da du deine Mitarbeiteraktien verlierst.» Lex meinte damit, dass ich sämtliche Einkünfte verlieren würde, Gehalt, Boni und die Goldman-Sachs-Aktien, die die Firma mir für die nächsten Jahre zugesichert hatte, als Anreiz, um bei Goldman Sachs zu bleiben.
Was das Risiko anging, musste ihm recht geben. Doch im Stillen sagte ich mir, dass der moralische Nutzen dennoch schwerer wog als das Risiko. Ich war davon wirklich überzeugt.
«Na prima!», sagte Lex. «Wie gesagt, es ist zu riskant. Ich würde es nicht tun.»
Damit beendeten wir das Telefonat. Ich sprach Lex erst wieder, nachdem mein Text veröffentlicht worden war.
Während der nächsten vier Wochen ging ich jeden Tag ins Büro und erledigte meine Arbeit, wie ich es immer getan hatte, und am Abend bis spät in die Nacht schrieb und feilte ich an meinem Artikel und erzählte niemandem davon. Anfang Februar hatte ich meinen Text mit dem Titel «Why I Am Leaving Goldman Sachs» endlich auf 1500 Wörter gekürzt. Meines Erachtens würde die Seite drei, die Meinungsseite, der New York Times
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