Die Unersättlichen: Ein Goldman-Sachs-Banker rechnet ab (German Edition)
wollte mir beim Zusammenpacken meiner Habseligkeiten Zeit lassen und ein bisschen in Erinnerungen schwelgen. Der Handelssaal war menschenleer. Außer mir war nur ein Wachmann anwesend. Die meisten Lampen waren ausgeschaltet, ebenso die Klimaanlage, um Energie zu sparen. Es war heiß und stickig. Ich setzte mich an meinen Arbeitsplatz, krempelte die Ärmel hoch und band meine Uhr ab. Ich aß einige Bissen von einem Filet-O-Fish, den ich mir bei einem McDonald’s um die Ecke gekauft hatte. Dann begann ich meine persönlichen Sachen zusammenzuräumen. Ich sah die kleine Trophäe, die die türkische Telekommunikationsgesellschaft mir verliehen hatte für unseren gelungenen Deal. Da war der Hemdknopf, den Rudy mir abgeschnitten hatte nach meinem ersten getätigten Trade. Ich dachte an die Tage mit Corey und an alles, was er mir über das Geschäft, aber auch über Integrität im Berufsleben beigebracht hatte. Ich fand das alte Programmheft von meinem Praktikum: von den fünfundsiebzig Teilnehmern damals im Sommer 2000 waren nur noch fünf im Geschäft. Da war ein Cricketball und ein Springbock-Rugbyball, den ich in den alten Tagen mit Daffey im Handelssaal in New York hin-und hergeworfen hatte. Ich musste wieder denken, wie viele «Culture Carrier» der Firma den Rücken gekehrt hatten und wie sehr sich in den zwölf Jahren, seit meinem ersten Open Meeting, der Tonfall, der Umgang miteinander und mit den Kunden verändert hatte.
Während der nächsten vier Stunden saß ich da, allein, mitten in dem geradezu unheimlich stillen Handelssaal – wo keine Trader schrien, keine Telefone läuteten –, und listete sogfältig genau auf, was noch zu erledigen war, um meinen Abschied am Dienstagmittag möglichst rasch und unauffällig über die Bühne zu bringen. Ich beabsichtigte, noch am selben Abend zurück nach New York zu fliegen, um das nächste Kapitel meines Lebens aufzuschlagen, wie immer das aussehen mochte. Wenn ich den Laden verließ, wollte ich einen sauberen Schnitt machen. Ich wollte schon vorher mein Bündel geschnürt haben. Alles sollte erledigt sein, bevor ich das Büro verließ.
Kurz nach Mitternacht, am frühen Sonntagmorgen, loggte ich mich schließlich aus meinem Computer aus, nahm meinen Rucksack und eine kleine Pappschachtel, in der sich die Erinnerungen eines Jahrzehnts befanden, und ging. Goldman Sachs ließ mich später wissen, es gebe ein Überwachungsvideo, auf dem zu sehen sei, wie ich mit der Schachtel und dem Rucksack aus der Eingangslobby herauskomme, als hätte ich etwas stehlen wollen. Dabei wollte ich nur endlich frei sein.
Nachwort
Am Erscheinungstag meines Artikels landete ich kurz vor Mitternacht am JFK Airport in New York. Da mein Foto veröffentlicht worden war, musste ich damit rechnen, erkannt zu werden, und hatte mich deshalb – etwas albern vielleicht – notdürftig verkleidet: mit einem dunkelbraunen Strohhut und einem Dreitagebart. Ich fuhr direkt zu Phils Wohnung an der Ecke 79. Straße und Third Avenue. Phil hatte eine große Luftmatratze für mich vorbereitet und mich gedrängt, nach der Landung gleich zu ihm zu kommen.
Ich wusste damals nicht, was mich erwartete, und hatte mir auch weiter keine Gedanken darüber gemacht. Was ich in meinem Artikel vorgebracht hatte, entsprach voll und ganz meiner Überzeugung, und ich hielt es für richtig, das alles öffentlich zu machen. Mit den Reaktionen darauf würde ich mich zu gegebener Zeit auseinandersetzen. Als sie kamen, war ich überwältigt: Ich erhielt Nachrichten aus aller Welt, aus dem ländlichen Texas, aus Russland und Indien, ja sogar aus China. Außerdem meldeten sich Dutzende ehemaliger Kollegen und Kunden.
Der Tenor war immer derselbe. Ich erhielt Zuspruch. Den Menschen gefiel die Idee, ein System zu reformieren, das auf Abwege geraten war. Ihnen gefiel der Gedanke, den Mächtigen die Wahrheit zu sagen. Ihnen gefiel die Vorstellung zu tun, was man für richtig hielt, auch wenn es Mut erforderte und persönliche Nachteile mit sich brachte. Ich war gerührt, wie viel ermunternde Anteilnahme mir zuteilwurde. Doch als das Trommelfeuer der Medien einsetzte, war ich froh, dass ich nicht meinem ersten Instinkt gefolgt war, ihnen allen zu antworten. Mein Bruder und meine besten Freunde, Lex und Dan, bestärkten mich darin – und zwar aus folgendem Grund:
Ich hatte fast fünf Monate lang an dem Artikel geschrieben, und er brachte genau das zum Ausdruck, was ich sagen wollte. Ich hatte mein Anliegen auf das Wesentliche
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