Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins
Autobussen zurück.
23.
Wir alle haben das Bedürfnis, von jemandem gesehen zu werden. Man könnte uns in vier Kategorien einteilen, je nach der Art von Blick, unter dem wir leben möchten.
Die erste Kategorie sehnt sich nach dem Blick von unendlich vielen anonymen Augen, anders gesagt, nach dem Blick eines Publikums. Das trifft auf den deutschen Sänger zu, auf die amerikanische Filmdiva und auch auf den Redakteur mit dem großen Kinn. Er war an seine Leser gewöhnt, und als die Russen eines Tages seine Wochenzeitung verboten, hatte er das Gefühl, sich in einer hundertmal dünneren Atmosphäre aufzuhalten. Niemand konnte ihm den Blick der unbekannten Augen ersetzen. Er hatte den Eindruck zu ersticken. Bis er dann bemerkte, daß er auf Schritt und Tritt von der Polizei überwacht und sein Telefon abgehört wurde, daß man ihn sogar auf der Straße heimlich fotografierte. Die anonymen Augen begleiteten ihn auf einmal wieder, er konnte wieder atmen! Theatralisch redete er zu den Mikrophonen in der Wand. Er hatte in der Polizei sein verlorenes Publikum wiedergefunden.
Zur zweiten Kategorie gehören die Leute, die zum Leben den Blick vieler vertrauter Augen brauchen. Das sind die nimmermüden Organisatoren von Cocktails und Parties. Sie sind glücklicher als die Menschen der ersten Kategorie, die das Gefühl haben, im Saal ihres Lebens sei das Licht ausgegangen, wenn sie ihr Publikum verlieren. Irgendwann passiert das fast jedem von ihnen. Die Menschen der zweiten Kategorie hingegen verschaffen sich immer irgendwelche Blicke. Zu ihnen gehören MarieClaude und ihre Tochter.
Dann gibt es die dritte Kategorie derer, die im Blickfeld des geliebten Menschen sein müssen. Ihre Situation ist genauso gefährlich wie die von Leuten der ersten Kategorie.
Einmal schließen sich die Augen des geliebten Menschen und es wird dunkel im Saal. Zu diesen Menschen gehören Teresa und Tomas.
Und dann gibt es noch die vierte und seltenste Kategorie derer, die unter dem imaginären Blick abwesender Menschen leben. Das sind die Träumer. Zum Beispiel Franz. Er ist nur Sabinas wegen zur kambodschanischen Grenze gefahren.
Der Autobus rattert über eine thailändische Landstraße, und er fühlt, wie ihr langer Blick auf ihm ruht.
In dieselbe Kategorie gehört auch Tomas' Sohn. Ich will ihn Simon nennen. (Es wird ihn freuen, wie sein Vater einen biblischen Namen zu tragen.) Die Augen, nach denen er sich sehnt, sind die Augen von Tomas. Nachdem er sich in die Unterschriftenaktion verwickelt hatte, wurde er von der Universität gejagt. Das Mädchen, mit dem er befreundet war, war die Nichte eines Dorfpfarrers. Er heiratete sie und wurde Traktorist in einer Genossenschaft, gläubiger Katholik und Familienvater. Dann erfuhr er, daß auch Tomas auf dem Lande lebte und freute sich: das Schicksal hatte ihr Leben symmetrisch gemacht. Das ermutigte ihn, seinem Vater einen Brief zu schreiben. Er erbat keine Antwort. Er wollte nur, daß Tomas einen Blick auf sein Leben warf.
Franz und Simon sind die Träumer dieses Romans. Im Unterschied zu Franz hat Simon seine Mutter nicht geliebt. Seit seiner Kindheit war er auf der Suche nach seinem Vater. Er war bereit zu glauben, daß seinem Vater früher ein Unrecht widerfahren war, das die Ungerechtigkeit rechtfertigte, die er ihm zugefügt hatte. Nie war er ihm deswegen böse gewesen, weil er nicht zum Verbündeten der Mutter werden wollte, die seinen Papa ständig verleumdete.
Er wohnte bei ihr, bis er achtzehn war, und zog dann nach Prag, um zu studieren. Zu der Zeit war Tomas bereits Fensterputzer. Simon wartete oft auf der Straße, um eine zufällige Begegnung herauszufordern. Doch sein Vater blieb nie stehen.
Er hatte sich nur deshalb dem ehemaligen Redakteur mit dem großen Kinn angeschlossen, weil dessen Schicksal ihn an das seines Vaters erinnerte. Der Redakteur kannte Tomas' Namen nicht. Der Artikel über Ödipus war längst vergessen, und er erfuhr erst durch Simon davon, der ihn bat, mit ihm zu seinem Vater zu gehen und ihn um seine Unterschrift zu bitten. Der Redakteur willigte nur ein, weil er dem Jungen, den er mochte, eine Freude machen wollte.
Wenn Simon an dieses Treffen zurückdachte, schämte er sich für sein Lampenfieber. Bestimmt hatte er dem Vater nicht gefallen. Dafür hatte der Vater ihm gefallen. Er erinnerte sich an jedes Wort und mußte ihm mehr und mehr recht geben. Ein Satz vor allem hatte sich ihm eingeprägt: »Diejenigen zu bestrafen, die nicht wissen, was sie tun, ist
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