Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins
war es gelungen, den Finger zu retten.
»Ach woher«, posaunte Marie-Claude, die in glänzender Form war, »ich habe einmal einen schlimmen Autounfall gehabt, und das war herrlich! Ich habe mich nie so wohl gefühlt wie im Krankenhaus! Ich konnte kein Auge zumachen und habe Tag und Nacht ununterbrochen gelesen!«
Alle sahen sie verwundert an, was sie sichtlich beglückte.
In Franz vermischte sich ein Gefühl der Abneigung (er dachte daran, daß seine Frau nach dem erwähnten Unfall schwer depressiv gewesen war und sich ohne Unterlaß beklagt hatte) mit einer gewissen Bewunderung (über ihre Gabe, alles Erlebte umzuformen, was von einer imponierenden Vitalität zeugte).
Sie fuhr fort: »Dort habe ich angefangen, die Bücher in Tag- und Nachtbücher einzuteilen. Es gibt tatsächlich Bücher für den Tag und solche, die man nur in der Nacht lesen kann.«
Alle stellten bewunderndes Erstaunen zur Schau; nur der Bildhauer, der noch immer seinen Finger festhielt, machte dank der unangenehmen Erinnerung ein ganz zerknittertes Gesicht.
Marie-Claude wandte sich ihm zu: »Welcher Gruppe würdest du Stendhal zuordnen?«
Der Bildhauer hatte nicht zugehört und zuckte verlegen mit den Schultern. Ein Kunstkritiker neben ihm verkündete, daß Stendhal seiner Meinung nach eine Tageslektüre sei.
Marie-Claude schüttelte den Kopf und posaunte: »Du irrst dich. Nein, nein und abermals nein! Stendhal ist ein Nachtautor!«
Franz beteiligte sich nur sehr zerstreut an der Diskussion über die Tages- und die Nachtkunst; er konnte an nichts anderes denken, als daß Sabina hier erscheinen würde. Sie hatten beide tagelang hin und her überlegt, ob sie die Einladung zu diesem Cocktail annehmen sollte, den Marie-Claude zu Ehren aller Maler und Bildhauer veranstaltete, die in ihrer Privatgalerie ausgestellt hatten. Seit Sabina mit Franz befreundet war, ging sie seiner Frau aus dem Weg. Aus Angst, sie könnten sich verraten, kamen sie schließlich überein, daß es natürlicher und weniger verdächtig wäre, wenn sie hinginge.
Als er verstohlen in Richtung des Eingangs spähte, hörte er aus der anderen Ecke des Salons die unermüdliche Stimme seiner achtzehnjährigen Tochter Marie-Anne. Er wechselte von der Gruppe, die von seiner Frau angeführt wurde, zum Kreis seiner Tochter. Jemand saß im Sessel, andere standen herum, Marie-Anne saß auf dem Boden. Franz war sicher, daß auch Marie-Claude am anderen Ende des Salons sich bald auf den Boden setzen würde. Sich vor Gästen auf den Boden zu setzen, war zu der Zeit eine Geste, die zeigen sollte, wie natürlich, ungezwungen, fortschrittlich, gesellig und pariserisch man war. Die Leidenschaft, mit der Marie-Claude sich überall auf den Boden setzte, ging so weit, daß Franz schon fürchtete, sie in dem Geschäft, wo sie ihre Zigaretten kauften, auf dem Boden sitzend anzutreffen.
»Woran arbeiten Sie gerade, Alan?« fragte Marie-Anne den Mann, zu dessen Füßen sie saß.
Naiv und aufrichtig, wie er war, wollte Alan der Tochter seiner Galeristin ernsthaft antworten. Er fing an, ihr seine neue Maltechnik zu erklären, eine Verbindung von Fotografie und Ölmalerei. Kaum hatte er drei Sätze gesagt, begann Marie-Anne zu pfeifen. Der Maler redete langsam und konzentriert; er hörte ihr Pfeifen nicht.
Franz flüsterte: »Kannst du mir erklären, warum du pfeifst?«
»Weil ich nicht mag, wenn über Politik geredet wird«, antwortete sie ganz laut.
Tatsächlich diskutierten zwei Männer aus derselben Gruppe über die bevorstehenden Wahlen in Frankreich. Marie-Anne, die sich verpflichtet fühlte, die Unterhaltung zu steuern, fragte die beiden, ob sie sich nächste Woche im Theater die Rossini-Oper anhören würden, die ein italienisches Ensemble in Genf aufführte. Der Maler Alan suchte indessen noch treffendere Formulierungen, um seine neue Malart zu erklären, und Franz schämte sich für seine Tochter.
Um sie zum Schweigen zu bringen, sagte er, daß ihn Opern zum Sterben langweilten.
»Du bist vollkommen unmöglich«, sagte Marie-Anne und versuchte, immer noch auf dem Boden sitzend, ihrem Vater auf den Bauch zu schlagen, »der Hauptdarsteller ist phantastisch! Wahnsinn, wie gut der aussieht! Ich hab ihn erst zweimal gesehen und bin schon unheimlich verknallt!«
Franz stellte fest, daß seine Tochter schrecklich ihrer Mutter glich. Warum glich sie nicht ihm? Es half nichts, sie glich ihm nicht. Er hatte schon hundertmal hören müssen, wie Marie-Claude verkündete, sie sei in diesen oder
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