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Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins

Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins

Titel: Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Milan Kundera
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die Mutter der lachenden Familie aus ihrem Tagebuch vorlas. Wenn ein Privatgespräch bei einem Glas Wein öffentlich im Radio gesendet wird, was heißt das anderes, als daß die Welt sich in ein Konzentrationslager verwandelt hat?
    Teresa gebrauchte dieses Wort schon seit ihrer Jugend, um auszudrücken, wie ihr das Leben in ihrer Familie vorkam.
    Ein Konzentrationslager ist eine Welt, in der die Menschen ständig zusammengepfercht leben müssen, Tag und Nacht.
    Grausamkeit und Gewalttätigkeit sind nur sekundäre (und keineswegs notwendige) Merkmale. Konzentrationslager bedeutet: Liquidierung des Privaten. Prochazka, der sich nicht einmal im Schutz der Intimität mit seinem Freund bei einem Glas Wein unterhalten konnte, lebte (ohne es zu ahnen, was ein fataler Irrtum war) in einem Konzentrationslager. Als Teresa bei der Mutter wohnte, lebte sie in einem Konzentrationslager. Seither weiß sie, daß ein Konzentrationslager nichts Außergewöhnliches ist, nichts, worüber man sich wundern müßte. Es ist etwas Gegebenes, etwas Grundlegendes, in das hinein man geboren wird und dem man nur unter großem Kraftaufwand entrinnen kann.
    5.
    Auf drei stufenförmig angeordneten Bänken saßen die Frauen so dicht nebeneinander, daß sie sich berührten. Neben Teresa schwitzte eine etwa dreißigjährige Frau mit einem sehr hübschen Gesicht. Zwischen ihren Schultern hingen zwei unglaublich große Brüste, die bei der geringsten Bewegung schaukelten. Die Frau erhob sich, und Teresa stellte fest, daß ihr Hinterteil zwei riesigen Ranzen glich und in keinem Verhältnis zu ihrem Gesicht stand.
    Mag sein, daß auch diese Frau oft vor dem Spiegel stand, ihren Körper betrachtete und durch ihn hindurch ihre Seele sehen wollte, wie Teresa es von klein auf tat. Gewiß hatte auch sie törichterweise geglaubt, daß der Körper das Aushängeschild der Seele sei. Doch was mußte das für eine monströse Seele sein, die diesem Körper glich, diesem Kleiderständer mit den vier Säcken?
    Teresa stand auf und stellte sich unter die Dusche. Dann trat sie hinaus ins Freie. Es nieselte noch immer. Sie stand auf einem Holzsteg, unter dem die Moldau durchfloß; ein Bretterverschlag schützte die Damen vor den Blicken der Stadt.
    Als sie hinunterschaute, sah sie im Wasser das Gesicht der Frau, an die sie gerade gedacht hatte.
    Die Frau lächelte sie an. Sie hatte eine zarte Nase, große, braune Augen und einen kindlichen Blick.
    Sie stieg die Stufen herauf, und unter dem zarten Gesicht kamen wieder die zwei Ranzen zum Vorschein, die auf und ab hopsten und kalte Wassertröpfchen verspritzten.
    6.
    Sie zog sich an. Sie stand vor einem großen Spiegel.
    Nein, an ihrem Körper gab es nichts Monströses, Unterhalb der Schultern hatte sie keine Säcke, sondern ziemlich kleine Brüste. Die Mutter hatte sich darüber lustig gemacht, weil sie nicht groß genug waren, nicht so waren, wie sie sein sollten, worauf Teresa Komplexe bekam, von denen erst Tomas sie befreite. Obwohl sie jetzt fähig war, ihre kleinen Brüste zu akzeptieren, störten sie die zu großen und zu dunklen Höfe rund um die Brustwarzen. Hätte sie ihren Körper selbst entwerfen können, so hätte sie unauffällige, zarte Brustwarzen, die nur ganz leicht von der Brustrundung abstanden und sich in der Farbe nur unmerklich von der übrigen Haut unterschieden. Diese großen, dunkelroten Ringe kamen ihr vor wie von einem Dorfmaler hingepinselt, der erotische Kunst für Bedürftige malen wollte.
    Sie sah sich an und stellte sich vor, daß ihre Nase jeden Tag einen Millimeter länger würde. Nach wie vielen Tagen wäre ihr Gesicht unkenntlich?
    Wenn die verschiedenen Körperteile anfingen, sich zu vergrößern oder zu verkleinern, bis sie jede Ähnlichkeit mit sich selbst verloren hätte, wäre sie dann noch sie  selbst, wäre sie noch Teresa?
    Natürlich. Selbst wenn Teresa überhaupt nicht mehr Teresa gliche, wäre ihre Seele im Inneren noch immer dieselbe und würde nur entsetzt zuschauen, was mit ihrem Körper vor sich ging.
    Wie sähe dann aber das Verhältnis zwischen Teresa und ihrem Körper aus? Hätte ihr Körper überhaupt ein Anrecht auf den Namen Teresa? Und wenn nicht, worauf bezöge sich ihr Name? Nur auf etwas Nicht-Körperliches, NichtMaterielles?
    (Es sind immer dieselben Fragen, die Teresa seit ihrer Kindheit beschäftigen. Wirklich ernsthaft sind nämlich nur Fragen, die auch ein Kind stellen kann. Nur die naivsten Fragen sind wirklich ernsthaft. Es sind die Fragen, auf die es

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