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Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins

Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins

Titel: Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Milan Kundera
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nicht drängen und faßte sie am Arm.
    So schritten sie über den weiten Rasen, und Teresa konnte sich für keinen Baum entscheiden. Niemand hielt sie zur Eile an, doch wußte sie, daß es ohnehin kein Entrinnen gab. Als sie einen blühenden Kastanienbaum vor sich sah, blieb sie stehen. Sie lehnte sich mit dem Rücken an den Stamm und schaute nach oben: sie sah sonnendurchtränktes Grün und hörte in der Ferne das Summen der Stadt, sanft und süß, als erklängen Tausende von Geigen.
    Der Mann setzte die Flinte an.
    Teresa spürte, wie der Mut sie verließ. Sie war verzweifelt über ihre Schwäche, vermochte sie jedoch nicht zu bezwingen und sagte: »Es ist aber nicht mein Wunsch.«
    Augenblicklich senkte der Mann den Gewehrlauf und sagte sehr milde: »Wenn es nicht Ihr Wunsch ist, so können wir es nicht tun. Dazu haben wir kein Recht.«
    Seine Stimme klang freundlich, als wollte er sich bei Teresa dafür entschuldigen, daß er sie nicht erschießen konnte, weil sie es nicht selber wünschte. Diese Freundlichkeit brach ihr das Herz, sie wandte ihr Gesicht der Baumrinde zu und fing an zu weinen.
    Ihr ganzer Körper wurde vom Weinen geschüttelt, und sie umarmte den Baum, als wäre es nicht ein Baum, sondern ihr Vater, den sie verloren, ihr Großvater, den sie nie gekannt hatte, ihr Urgroßvater, ihr Ururgroßvater, irgendein unendlich alter Mann, der aus den entferntesten Tiefen der Zeit gekommen war, um ihr sein Gesicht in Form einer rauhen Baumrinde zuzuwenden.
    Dann drehte sie sich um. Die drei Männer waren bereits weit weg, sie schlenderten auf dem Rasen umher wie Golfspieler, und die Flinte in der Hand des einen sah tatsächlich aus wie ein Golfschläger.
    Sie ging den Laurenziberg hinunter, in der Seele eine wehmütige Sehnsucht nach dem Mann, der sie hätte erschießen sollen und es nicht getan hatte. Sie sehnte sich nach seiner Nähe. Jemand mußte ihr doch helfen können! Tomas half ihr nicht. Tomas schickte sie in den Tod. Helfen konnte ihr nur ein anderer!
    Je näher sie der Stadt kam, desto stärker wurde ihre Sehnsucht nach diesem Mann, desto größer ihre Angst vor Tomas. Er würde ihr nicht verzeihen, daß sie ihr Versprechen nicht gehalten hatte. Er würde ihr nicht verzeihen, daß sie nicht tapfer genug war und ihn verraten hatte. Schon befand sie sich in der Straße, wo sie wohnten, und wußte, daß sie ihn im nächsten Augenblick sehen würde. Davor hatte sie eine solche Angst, daß ihr übel wurde und sie glaubte, erbrechen zu müssen.
    Der Ingenieur hatte sie zu sich nach Hause eingeladen. Zweimal hatte sie die Einladung ausgeschlagen. Nun hatte sie eingewilligt.
    Wie immer aß sie stehend zu Mittag und ging dann weg.
    Es war noch nicht zwei Uhr.
    Sie näherte sich dem Haus, in dem er wohnte, und spürte, daß sich ihre Schritte wie von selbst verlangsamten, unabhängig von ihrem Willen.
    Doch dann überlegte sie, daß es im Grunde Tomas war, der sie zu ihm schickte. Er war es ja, der ihr stets von neuem erklärte, daß Liebe und Sex nichts miteinander zu tun hätten.
    Sie wollte ganz einfach sehen, ob seine Worte sich bestätigten. Sie hörte seine Stimme: Ich verstehe dich. Ich weiß, was du willst und habe alles arrangiert. Du gehst jetzt ganz hinauf, und du wirst alles verstehen.
    Ja, sie tat nichts anderes, als Tomas' Befehle auszuführen.
    Sie wollte nur kurz bei dem Ingenieur bleiben; gerade so lange, um eine Tasse Kaffee zu trinken, damit sie erfuhr, was es bedeutete, bis zur Grenze der Untreue zu gehen. Sie wollte ihren Körper an diese Grenze stoßen, ihn dort eine Zeitlang wie am Pranger stehenlassen, und dann, wenn der Ingenieur sie umarmen wollte, würde sie zu ihm sagen wie zum Mann mit der Flinte auf dem Laurenziberg: »Es ist aber nicht mein Wunsch.«
    Daraufhin würde der Mann den Gewehrlauf senken und mit freundlicher Stimme sagen: »Wenn es nicht Ihr Wunsch ist, so kann ich es nicht tun. Dazu habe ich kein
    Recht.«
    Sie würde sich zum Baumstamm hinwenden und anfangen zu weinen.
    16.
    Es war eine Mietskaserne aus der Jahrhundertwende in einem Prager Arbeitervorort. Sie betrat einen Hausflur mit schmutzigen gekalkten Wänden. Eine ausgetretene Steintreppe mit Eisengeländer führte in den ersten Stock. Sie wandte sich nach links. Die zweite Tür, ohne Namenschild, ohne Klingel. Sie klopfte.
    Er öffnete.
    Die Wohnung bestand aus einem einzigen Raum, der zwei Meter hinter der Tür durch einen Vorhang abgeteilt war, wodurch eine Art Ersatz für das fehlende Vorzimmer geschaffen

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