Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins
Zimmer, hob die am Boden liegenden Kleider auf, zog sich rasch an und ging.
20.
Sie kam mit Karenin, der sein Hörnchen in der Schnauze trug, vom Einkaufen zurück. Es war ein kalter Morgen mit leichtem Frost. Sie gingen gerade an einer Siedlung vorbei, deren Bewohner die großen Flächen zwischen den Häusern in kleine Gärten verwandelt hatten. Auf einmal blieb Karenin stehen und starrte unverwandt in eine Richtung. Auch sie sah dorthin, ohne etwas Außergewöhnliches zu bemerken.
Karenin zerrte an der Leine, und sie ließ sich führen. Schließlich sah sie auf der gefrorenen Erde eines brachliegenden Beetes ein schwarzes Krähenköpfchen mit einem großen Schnabel. Das körperlose Köpfchen bewegte sich sachte, und der Schnabel stieß ab und zu einen traurigen, heiseren Ton aus.
Karenin war so aufgeregt, daß er das Hörnchen fallen ließ.
Teresa mußte ihn an einem Baum festbinden, damit er der Krähe nichts antun konnte. Dann kniete sie nieder und versuchte, die festgestampfte Erde rund um den Körper des lebendig begrabenen Vogels zu lockern. Es war nicht einfach. Sie brach sich einen Fingernagel ab und blutete.
In diesem Moment fiel nicht weit von ihr ein Stein zu Boden. Sie sah sich um und erblickte zwei knapp zehnjährige Jungen hinter einer Hausecke. Sie stand auf. Als die Jungen ihre Reaktion und den Hund am Baum bemerkten, rannten sie weg.
Sie kniete sich wieder hin und kratzte die Erde weg, bis sie die Krähe schließlich aus ihrem Grab befreit hatte. Aber der Vogel war lahm, konnte weder gehen noch fliegen. Sie hüllte ihn in ihren roten Schal, den sie um den Hals trug, und drückte ihn mit der linken Hand an ihren Körper. Mit der rechten band sie Karenin vom Baum los. Sie mußte all ihre Kräfte aufbieten, um ihn zu bändigen und bei Fuß zu halten.
Sie klingelte, da sie keine Hand frei hatte, um den Schlüssel in der Tasche zu suchen. Tomas öffnete ihr. Sie streckte ihm Karenins Leine entgegen. »Halt ihn fest!« befahl sie und trug die Krähe ins Badezimmer. Sie legte den Vogel auf den Boden unter das Waschbecken. Die Krähe zuckte, konnte sich aber nicht fortbewegen. Eine dicke gelbe Flüssigkeit rann an ihrem Körper herunter. Teresa baute ihr unter dem Waschbecken ein Nest aus alten Lumpen, damit ihr auf den Steinplatten nicht zu kalt wurde. Immer wieder versuchte der Vogel verzweifelt, seinen lahmen Flügel zu bewegen; sein Schnabel ragte in die Luft wie ein Vorwurf.
Sie saß auf dem Rand der Badewanne und konnte ihren Blick nicht von der sterbenden Krähe abwenden. In der verwaisten Verlassenheit des Vogels sah sie das Bild ihres eigenen Schicksals und sagte sich immer wieder: Auf der ganzen weiten Welt habe ich niemanden außer Tomas.
Hat die Geschichte mit dem Ingenieur sie gelehrt, daß Liebesabenteuer nichts mit Liebe zu tun haben? Daß sie leicht sind und nichts wiegen? Ist sie ruhiger geworden?
Keineswegs.
Eine Szene ließ ihr keine Ruhe: sie kam aus der Toilette, und ihr Körper stand nackt und verstoßen im Vorraum. Die aufgeschreckte Seele zitterte tief in den Eingeweiden. Hätte der Mann im Zimmer in jenem Moment ihre Seele angesprochen, wäre sie in Tränen ausgebrochen und ihm in die Arme gefallen.
Sie stellte sich vor, daß an ihrer Stelle eine von Tomas' Freundinnen auf dem Flur neben der Toilette gestanden hätte, und Tomas drinnen an Stelle des Ingenieurs. Er hätte dem Mädchen nur ein einziges Wort sagen müssen, und sie hätte ihn weinend umarmt.
Teresa weiß, daß der Augenblick, in dem die Liebe geboren wird, so aussieht: eine Frau kann der Stimme, die ihre aufgeschreckte Seele an die Oberfläche ruft, nicht widerstehen; ein Mann kann der Frau nicht widerstehen, deren Seele auf seine Stimme anspricht. Tomas ist niemals sicher vor den Fallen der Liebe, und Teresa muß jede Stunde, jede Minute um ihn fürchten.
Was besitzt sie als Waffe? Nichts als ihre Treue. Gleich zu Anfang hat sie ihm ihre Treue angeboten, gleich am ersten Tag, als wäre ihr bewußt gewesen, daß sie ihm nichts anderes zu bieten hatte. Ihre Liebe hat eine sonderbar asymmetrische Architektur: sie beruht auf der sicheren Stütze von Teresas Treue, wie ein riesiger Palast auf einer einzigen Säule.
Die Krähe bewegte kaum noch die Flügel, nur ab und zu zuckte sie mit dem verletzten, gebrochenen Füßchen. Teresa wollte sie nicht allein lassen, als wachte sie am Lager einer sterbenden Schwester. Schließlich ging sie doch in die Küche, um in Eile Abendbrot zu essen.
Als sie wiederkam, war
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