Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins
besessen habe, antwortete er ausweichend, und wenn sie insistierten, sagte er: »Vielleicht so an die zweihundert.«
Einige Neider behaupteten, er würde übertreiben. Er verwahrte sich dagegen: »Das ist gar nicht so viel. Seit etwa fünfundzwanzig Jahren habe ich Beziehungen zu Frauen.
Teilt mal zweihundert durch fünfundzwanzig. Das macht etwa acht Frauen pro Jahr. Das ist doch nicht viel.«
Seit er mit Teresa zusammenlebte, stießen seine erotischen Aktivitäten auf Organisationsschwierigkeiten; er konnte ihnen (zwischen Operationstisch und Heim) nur noch eine schmale Zeitspanne einräumen, die er zwar intensiv nutzte (wie ein Bergbauer intensiv sein schmales Feld bestellt), die aber unmöglich mit einem Zeitraum von sechzehn Stunden zu vergleichen war, den er plötzlich geschenkt bekommen hatte. (Ich sage sechzehn, weil auch die acht Stunden Fensterputzen mit dem Kennenlernen neuer Verkäuferinnen, Sekretärinnen und Hausfrauen ausgefüllt waren, mit denen er sich verabreden konnte.) Was er bei ihnen suchte? Was ihn zu ihnen hinzog? Ist denn die körperliche Liebe nicht ewige Wiederholung des Gleichen?
Nein. Es bleibt immer ein kleiner Prozentsatz an Unvorstellbarem. Sah er eine Frau in Kleidern, so konnte er sich zwar vorstellen, wie sie nackt aussehen würde (hier ergänzte die Erfahrung des Arztes die Erfahrung des Liebhabers), doch blieb zwischen dem Ungefähren der Vorstellung und der Präzision der Wirklichkeit ein kleiner
Spielraum für das Unvorstellbare, und genau das war es, was ihm keine Ruhe ließ. Die Jagd nach dem Unvorstellbaren endet aber nicht etwa mit der Entdeckung der Nacktheit, sie geht weiter: Wie wird sie sich verhalten, wenn er sie auszieht? Was wird sie sagen, wenn er sie liebt? Wie werden ihre Seufzer klingen?
Welche Grimasse wird sich im Moment der Lust auf ihrem Gesicht abzeichnen?
Die Einzigartigkeit des menschlichen Ich liegt gerade in dem verborgen, was an ihm unvorstellbar ist. Vorstellen können wir uns nur, was an allen Menschen gleich, was allgemein ist. Das Individuelle des Ich ist das, was es vom Allgemeinen unterscheidet, was sich also nicht von vornherein abschätzen und berechnen läßt, was man am anderen erst enthüllen, entdecken und erobern muß.
Tomas, der sich in den letzten zehn Jahren seiner Tätigkeit als Arzt ausschließlich mit dem menschlichen Gehirn beschäftigt hatte, wußte, daß nichts schwieriger zu erfassen war, als das »Ich«. Zwischen Hitler und Einstein, zwischen Breschnew und Solschenizyn gibt es viel mehr Ähnlichkeiten als Unterschiede. Wollte man es in Zahlen ausdrücken, so gäbe es zwischen ihnen ein Millionstel Unähnliches und neunhundertneunundneunzigtausend-neunhundertneunundneunzig Millionstel Gleiches.
Tomas ist besessen von dem Wunsch, sich dieses einen Millionstels zu bemächtigen, und darin liegt für ihn der Sinn seiner Frauenbesessenheit. Er ist nicht von den Frauen besessen, sondern davon, was an ihnen unvorstellbar ist, mit anderen Worten: er ist besessen von diesem Millionstel an Unähnlichem, das die eine Frau von der anderen unterscheidet.
(Vielleicht treffen sich an diesem Punkt die Leidenschaft des Chirurgen und die Leidenschaft des Frauenhelden. Er legt das imaginäre Skalpell selbst dann nicht aus der Hand, wenn er mit seinen Geliebten zusammen ist. Es verlangt ihn danach, sich dessen zu bemächtigen, was tief in ihrem Inneren verborgen liegt, um dessentwillen er ihre Oberfläche aufschneiden muß.) Allerdings kann man sich zu Recht fragen, warum er dieses Millionstel an Unähnlichem gerade im Sex suchen mußte. Konnte er es nicht in der Gangart, den kulinarischen Vorlieben oder den künstlerischen Interessen der Frauen finden?
Sicher, das Millionstel an Ungleichem ist in allen Bereichen des menschlichen Lebens gegenwärtig, nur liegt es unverhüllt da, und man braucht es nicht erst zu entdecken, man braucht kein Skalpell. Hat eine Frau als Nachtisch lieber Käse als Süßes, oder mag eine andere keinen Blumenkohl, so ist das zwar ein Zeichen von Originalität, doch man erkennt sofort, daß diese Art von Originalität völlig belanglos und überflüssig ist, daß es keinen Sinn hat, ihr Aufmerksamkeit zu schenken und in ihr irgendeinen Wert zu suchen.
Einzig in der Sexualität erscheint dieses Millionstel von Ungleichem als etwas Kostbares, weil es nicht öffentlich zugänglich ist und man es sich erobern muß. Noch vor einem halben Jahrhundert mußte man einer solchen Eroberung viel Zeit widmen (manchmal Wochen,
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