Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins
schon lange irritiert, und in seinem Inneren ruhte eine tiefe Sehnsucht, im Geiste des Parmenides Schweres in Leichtes umzuwandeln. Denken wir daran zurück, wie er sich in einer einzigen Minute entschlossen hatte, weder seine erste Frau noch seinen Sohn künftig wiederzusehen, und wie erleichtert er vernahm, daß seine Eltern mit ihm gebrochen hatten. Was war das anderes als eine heftige und nicht vom Verstand geleitete Geste, mit der er von sich stieß, was ihm als schwere Pflicht, als ein »Es muß sein!« eingebleut worden war?
Damals war es allerdings ein äußerliches, auf gesellschaftlichen Konventionen beruhendes »Es muß sein!«, während das »Es muß sein!« seiner Liebe zur Medizin aus seinem Inneren kam. Um so schlimmer. Ein innerer Imperativ ist noch stärker, spornt noch mehr zur Auflehnung an.
Chirurg zu sein bedeutet, die Oberfläche der Dinge aufzuschneiden und zu schauen, was sich in ihrem Inneren verbirgt. Vielleicht hat gerade dieser Wunsch Tomas dazu geführt, wissen zu wollen, was auf der anderen Seite dieses »Es muß sein!« liegt; anders gesagt: wissen zu wollen, was vom Leben übrigbleibt, wenn man sich von dem befreit, was man bisher als seine Berufung angesehen hat.
Als er sich bei der gutmütigen Leiterin des Prager Unternehmens zur Reinigung von Vitrinen und Fenstern vorstellte, sah er das Ergebnis seines Entschlusses auf einmal in aller Deutlichkeit und Unabwendbarkeit vor sich, und er erschrak. Mit diesem Schrecken verbrachte er die ersten Tage in seinem neuen Beruf. Nachdem er aber (nach etwa einer Woche) die erstaunliche Fremdheit seines neuen Lebens überwunden hatte, begriff er plötzlich, daß lange Ferien angebrochen waren.
Er tat Dinge, an denen ihm überhaupt nichts lag, und das genoß er. Er begriff plötzlich, das Glück von Menschen (die er bisher bemitleidet hatte), die einem Beruf nachgehen, zu dem sie kein inneres »Es muß sein!« nötigt, den sie in dem Moment vergessen können, da sie ihren Arbeitsplatz verlassen. Diese glückselige Gleichgültigkeit hatte er noch nie empfunden. Wenn ihm manchmal auf dem Operationstisch etwas nicht so geglückt war, wie er es wollte, war er verzweifelt und konnte nicht schlafen. Oft verlor er sogar die Lust auf Frauen. Das »Es muß sein!« seines Berufes war wie ein Vampir, der ihm das Blut aussaugte.
Nun wanderte er mit seiner Fensterputzstange in der Hand in Prag herum und stellte überrascht fest, daß er sich zehn Jahre jünger fühlte. Die Verkäuferinnen der Warenhäuser redeten ihn mit »Herr Doktor« an (die Prager Trommeln hatten perfekt funktioniert) und fragten ihn um Rat zu Schnupfen, Rückenschmerzen und unregelmäßigen Menstruationen. Sie beobachteten ihn fast beschämt, wenn er das Fensterglas mit Wasser übergoß, die Bürste auf die
Stange setzte und die Scheibe zu reinigen begann. Hätten sie die Kunden im Geschäft stehenlassen können, so hätten sie ihm gewiß die Stange aus der Hand genommen und die Vitrine selbst geputzt.
Tomas arbeitete vor allem in Warenhäusern, oft aber schickte ihn seine Firma auch zu Privatpersonen. Die Leute erlebten die Massenverfolgungen tschechischer Intellektueller damals noch in einer Art euphorischer Solidarität. Als seine ehemaligen Patienten erfuhren, daß Tomas Fenster putzte, riefen sie bei seiner Firma an, um ihn zu bestellen. Sie hießen ihn mit einer Flasche Champagner oder Sliwowitz willkommen, schrieben in seinen Arbeitsbericht, er habe dreizehn Fenster geputzt, plauderten zwei Stunden mit ihm und stießen auf sein Wohl an. Tomas ging in bester Laune zur nächsten Wohnung, zum nächsten Geschäft. Die Familien der russischen Offiziere ließen sich im Lande nieder, aus dem Radio ertönten Drohreden von Beamten des Innenministeriums, die an die Stelle der hinausgeworfenen Redakteure getreten waren, und er torkelte betrunken durch die Straßen von Prag und es schien ihm, als ginge er von einem Fest zum anderen. Das waren seine großen Ferien.
Er kehrte in die Zeit seiner Junggesellenjahre zurück. Er war nämlich plötzlich ohne Teresa. Er sah sie nur nachts, wenn sie aus der Bar zurückkam und er kurz aus dem ersten Schlaf aufwachte, und dann wieder frühmorgens, wenn sie noch schlaftrunken war und er schon zur Arbeit eilen mußte.
Er hatte sechzehn Stunden für sich allein, und das war ein Freiraum, der sich ihm unerwartet eröffnet hatte. Freiraum bedeutete für ihn seit frühester Jugend: Frauen.
Wenn Freunde ihn fragten, wie viele Frauen er in seinem Leben
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