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Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins

Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins

Titel: Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Milan Kundera
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berühren. Schlägt man jemandem mit aller Kraft einen Knüppel auf den Kopf, so bricht er zusammen und hört für immer auf zu atmen. Einmal würde er aber 7. ohnehin aufhören zu atmen. So ein Mord nimmt nur vorweg, was Gott etwas später selbst besorgt hätte. Man kann sogar annehmen, daß Gott mit dem Mord gerechnet hat, nicht aber mit der Chirurgie. Er konnte nicht vermuten, daß man es wagen würde, die Hand ins Innere des Mechanismus zu stecken, den er sich ausgedacht, sorgfältig in Haut verpackt, versiegelt und vor dem  menschlichen Auge verschlossen hat.
    Als Tomas zum ersten Mal das Skalpell an die Haut eines unter Narkose liegenden Mannes setzte, um mit entschiedener Geste diese Haut mit einem präzisen Schnitt aufzuschneiden (als wäre sie ein Stück lebloser Stoff, ein Mantel, ein Rock oder ein Vorhang), da hatte er, kurz aber intensiv, das Gefühl, ein Sakrileg zu begehen. Aber genau das war es, was ihn anzog! Das war das »Es muß sein!«, das tief in ihm verwurzelt lag, zu dem ihn kein Zufall geführt hatte, kein Ischias des Chefarztes, nichts Äußerliches.
    Wie ist es möglich, daß er etwas, das so sehr zu ihm gehörte, so schnell, entschlossen und leicht hat aufgeben können?
    Er würde uns antworten, er habe es getan, damit die Polizei ihn nicht mißbrauchen könne. Obwohl es theoretisch möglich war (und es solche Fälle tatsächlich gab), so war es, ehrlich gesagt, nicht sehr wahrscheinlich, daß die Polizei eine falsche Erklärung mit seiner Unterschrift veröffentlicht hätte.
    Man hat natürlich das Recht, sich auch vor wenig wahrscheinlichen Gefahren zu fürchten. Man kann auch annehmen, daß Tomas auf sich selbst wütend war, auf seine Ungeschicktheit, und daß er weiteren Kontakten mit der Polizei, die sein Gefühl der Machtlosigkeit nur noch verstärkt hätten, aus dem Weg gehen wollte. Man kann außerdem annehmen, daß er seinen Beruf ohnehin schon verloren hatte, weil die mechanische Arbeit in der Poliklinik, wo er Aspirin verschrieb, mit seiner Vorstellung vom Arztberuf nichts mehr gemeinsam hatte. Trotz alledem kommt mir die Abruptheit seiner Entscheidung sonderbar vor. Liegt dahinter nicht etwas anderes verborgen, etwas Tieferliegendes, das seinen Überlegungen entgangen ist?
    Obwohl Tomas Teresa zuliebe begonnen hatte, Beethoven zu lieben, verstand er gleichwohl nicht viel von Musik, und ich zweifle, ob er die wahre Geschichte von Beethovens berühmtem Motiv »Muß es sein? Es muß sein!« kannte.
    Das war so: Ein gewisser Herr Dembscher schuldete Beethoven fünfzig Gulden, und der Komponist, der ewig in Geldnöten war, erinnerte ihn daran. »Muß es sein?« seufzte Herr Dembscher unglücklich, und Beethoven lachte aufgeräumt: »Es muß sein!« Er schrieb diese Worte sogleich in sein Notenheft und komponierte auf dieses realistische Motiv ein kleines Musikstück für vier Stimmen: drei Stimmen singen »Es muß sein, es muß sein, ja, ja, ja«, und die vierte Stimme fügt hinzu: »Heraus mit dem Beutel!«
    Dasselbe Motiv wurde ein Jahr später zum Grundthema des vierten Satzes seines letzten Quartetts, opus 135. Damals dachte Beethoven nicht mehr an Dembschers Geldbeutel.
    Die Worte »Es muß sein!« nahmen für ihn einen immer feierlicheren Ton an, als hätte das Schicksal selbst sie ausgesprochen. In der Sprache Kants kann selbst ein gebührend betontes »Guten Tag« zu einer metaphysischen These werden. Die deutsche Sprache ist die Sprache der schweren Wörter. »Es muß sein!« war keineswegs ein Scherz, und noch viel weniger »Der schwer gefaßte Entschluß«.
    Beethoven hatte also eine spaßige Inspiration in ein ernstes Quartett verwandelt, einen Scherz in eine metaphysische Wahrheit. Das ist ein interessantes Beispiel für den Übergang vom Leichten ins Schwere (oder nach Parmenides: für den Übergang vom Positiven ins Negative). Erstaunlicherweise überrascht uns eine solche Verwandlung nicht. Andererseits wären wir entrüstet, wenn Beethoven den Ernst seines Quartetts in den leichten Scherz eines vierstimmigen Kanons über Dembschers Geldbeutel verwandelt hätte. Dabei hätte er ganz im Geiste des Parmenides gehandelt: er hätte Schweres in Leichtes, Negatives in Positives umgewandelt! Am Anfang hätte (als unvollendete Skizze) eine große metaphysische Wahrheit gestanden, am Ende (als vollendetes Werk) ein federleichter Scherz! Wir aber können nicht mehr wie Parmenides denken.
    Mir scheint, dieses aggressive, feierlich strenge »Es muß sein!« hat Tomas insgeheim

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