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Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins

Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins

Titel: Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Milan Kundera
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Irgendein Artikel sollte den Menschen geholfen haben? Was wollten diese beiden Männer ihm da einreden? Sie hatten sein Leben auf einen armseligen Gedanken über Ödipus reduziert und eigentlich auf etwas noch viel Geringeres: auf ein simples »Nein!«, das er dem Regime offen ins Gesicht geschleudert hatte.
    Er sagte (und seine Stimme klang immer noch kühl, obwohl er sich dessen kaum bewußt war): »Mir ist nicht bekannt, daß dieser Artikel jemandem geholfen hätte. Als Chirurg hingegen habe ich manchen Menschen das Leben gerettet.«
    Wieder herrschte eine Weile Stille. Sie wurde vom Sohn unterbrochen: »Gedanken können Menschen auch das
    Leben retten.«
    Tomas sah den eigenen Mund im Gesicht seines Sohnes und dachte: Sonderbar, den eigenen Mund stottern zu sehen.
    »In deinem Artikel stand etwas Wunderbares«, fuhr der Sohn fort, und man konnte sehen, daß es ihn Mühe kostete: »Die Kompromißlosigkeit. Diese Fähigkeit kommt uns allmählich abhanden, der Sinn für eine klare Unterscheidung von Gut und Böse. Man weiß nicht mehr, was es heißt, sich schuldig zu fühlen. Die Kommunisten haben die Ausrede, Stalin hätte sie hinters Licht geführt. Der Mörder entschuldigt sich, indem er sagt, seine Mutter hätte ihn nicht geliebt und er wäre frustriert. Du aber hast auf einmal gesagt: Es gibt keine Ausrede. Niemand war in seinem Inneren unschuldiger als Ödipus. Und trotzdem hat er sich selbst bestraft, als er einsah, was er getan hatte.«
    Tomas riß den Blick mit Gewalt von seiner Lippe im Gesicht des Sohnes los und versuchte, den Redakteur anzusehen. Er war gereizt, hatte Lust zu widersprechen und sagte: »Wissen Sie, das ist alles ein Mißverständnis. Die Grenzen zwischen Gut und Böse sind furchtbar undeutlich. Es ist mir überhaupt nicht darum gegangen, daß jemand bestraft werden sollte. Jemanden zu bestrafen, der nicht wußte, was er tat, ist Barbarei. Der Ödipusmythos ist sehr schön. Aber so mit ihm umzugehen ...« Er wollte noch etwas sagen, erinnerte sich dann aber, daß die Wohnung möglicherweise abgehört wurde. Er hatte nicht den geringsten Ehrgeiz, von den Historikern kommender Jahrhunderte zitiert zu werden.
    Viel eher hegte er Bedenken, die Polizei könnte ihn zitieren.
    Es war ja gerade die Verurteilung seines eigenen Artikels, die man von ihm gefordert hatte. Es war ihm unangenehm, daß die Polizei es nun endlich aus seinem eigenen Munde hören konnte. Er wußte, daß alles, was man in diesem Land aussprach, jederzeit im Rundfunk gesendet werden konnte. Er verstummte.
    »Was hat Sie zu diesem Gesinnungswandel bewogen?« fragte der Redakteur.
    »Ich frage mich eher, was mich damals bewogen hat, diesen Artikel zu schreiben ...«, sagte Tomas, und in diesem Moment fiel es ihm ein: sie war an seinem Bett gestrandet wie ein Kind, das man in einen Korb gelegt und auf dem Wasser ausgesetzt hatte. Ja, deswegen hatte er jenes Buch in die Hand genommen, deswegen war er zu den Geschichten von Romulus, Moses und Ödipus zurückgekehrt. Plötzlich war sie hier bei ihm. Er sah sie vor sich, wie sie die in den roten Schal gehüllte Krähe an die Brust drückte. Dieses Bild tröstete ihn. Als wäre es aufgetaucht, um ihm zu sagen, daß Teresa lebte, daß sie in diesem Moment in derselben Stadt war wie er, und alles andere bedeutungslos sei.
    Der Redakteur unterbrach das Schweigen: »Ich verstehe Sie, Herr Doktor. Mir gefällt es auch nicht, daß man bestraft.
    Wir fordern aber keine Strafe«, lächelte er, »wir fordern das Erlassen der Strafe.«
    »Ich weiß«, sagte Tomas. Er hatte sich bereits damit abgefunden, in den nächsten Sekunden etwas zu tun, das vielleicht edelmütig, gewiß aber völlig überflüssig war (weil es den politischen Häftlingen nicht half), und ihm persönlich unangenehm (weil es unter Umständen geschah, die ihm aufgezwungen worden waren).
    Der Sohn sagte (fast bittend): »Es ist deine Pflicht zu unterschreiben.«
    Seine Pflicht? Sein Sohn erinnerte ihn an seine
    Pflichten?
    Das war das Schlimmste, was man ihm sagen konnte. Wieder erschien vor seinen Augen das Bild Teresas, wie sie die Krähe in den Armen hielt. Er erinnerte sich daran, daß sie gestern in der Bar von einem Spitzel belästigt worden war. Ihre Hände zitterten wieder. Sie war alt geworden.
    Ihm liegt an nichts, außer an ihr. Sie, die aus sechs Zufallen Geborene, sie, die aus dem Ischias des Chefarztes entsprossene Blüte, sie, die jenseits aller »Es muß sein!« steht, sie ist das einzige, was ihm wirklich

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