Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins
wichtig ist.
Warum überlegt er, ob er unterschreiben soll oder nicht?
Für sämtliche Entscheidungen gibt es nur ein Kriterium: er darf nichts tun, was ihr schaden könnte. Tomas kann keine politischen Gefangenen retten, wohl aber Teresa glücklich machen. Nein, nicht einmal das kann er. Unterzeichnet er aber die Petition, ist es so gut wie sicher, daß die Spitzel sie noch häufiger belästigen und ihre Hände noch stärker zittern werden.
Er sagte: »Es ist viel wichtiger, eine lebendig begrabene Krähe zu befreien, als dem Präsidenten eine Petition zu schicken.«
Er wußte, daß der Satz unverständlich war, und gerade deswegen gefiel er ihm noch besser. Er empfand plötzlich einen unerwarteten Rausch. Es war derselbe Rausch wie damals, als er seiner Frau feierlich verkündet hatte, daß er weder sie noch seinen Sohn je wiedersehen wollte. Es war derselbe Rausch wie damals, als er das Schreiben in den Briefkasten geworfen hatte, mit dem er sich für immer vom Arztberuf lossagte. Er war gar nicht sicher, richtig zu handeln, doch war er sicher, so zu handeln, wie er handeln wollte.
Er sagte: »Seid mir nicht böse. Ich werde nicht unterschreiben.«
Nach ein paar Tagen las er in allen Zeitungen Berichte über die Petition.
Nirgends stand allerdings geschrieben, daß es sich um ein höfliches Gesuch zugunsten der politischen Gefangenen handelte und man deren Freilassung forderte. Keine einzige Zeitung zitierte auch nur einen Satz des kurzen Textes. Statt dessen wurde lang und breit in unklaren, drohenden Formulierungen von einem staatsfeindlichen Aufruf gesprochen, der zur Basis eines neuen Kampfes gegen den Sozialismus hätte werden sollen. Diejenigen, die den Text unterschrieben hatten, wurden namentlich aufgeführt, und ihre Namen waren von Verleumdungen und Angriffen begleitet, bei denen es Tomas kalt über den Rücken lief.
Gewiß, das war vorauszusehen gewesen. In jener Zeit wurde jede öffentliche Aktion (jede Versammlung, Petition, Ansammlung auf der Straße), die nicht von der kommunistischen Partei organisiert war, automatisch als gesetzwidrig eingestuft und stellte eine Gefahr für die Teilnehmer dar.
Jedermann wußte das. Gerade darum ärgerte es Tomas um so mehr, daß er die Petition nicht unterschrieben hatte. Warum eigentlich nicht? Er verstand die Motive seiner Entscheidung selbst nicht mehr so ganz.
Wieder sehe ich ihn vor mir, wie er mir am Anfang des Romans erschienen ist. Er steht am Fenster und schaut über den Hof auf die Mauer des Wohnblocks gegenüber.
Das ist das Bild, aus dem er geboren ist. Wie ich schon gesagt habe, werden Romanpersonen nicht wie lebendige
Menschen aus einem Mutterleib, sondern aus einer Situation, einem Satz, einer Metapher geboren, in deren Kern eine Möglichkeit des Menschen verborgen liegt, von der der Autor meint, daß sie noch nicht entdeckt oder daß noch nichts Wesentliches darüber gesagt worden sei.
Oder stimmt es, daß ein Autor nur über sich selbst reden kann?
Hilflos über den Hof zu schauen und nicht zu wissen, was tun; das Rumoren des eigenen Bauches im Moment verliebter Erregung zu hören; zu verraten und nicht innehalten zu können auf dem schönen Weg von Verrat zu Verrat; die Faust zu erheben im Zug des Großen Marsches; seinen Scharfsinn vor den geheimen Mikrophonen der Polizei zur Schau zu stellen - alle diese Situationen habe ich selbst kennengelernt und erlebt, und trotzdem ist aus keiner die Person erwachsen, die ich selbst in meinem curriculum vitae bin. Die Personen meines Romans sind meine eigenen Möglichkeiten, die sich nicht verwirklicht haben. Deshalb habe ich sie alle gleich gern, deshalb machen sie mir alle die gleiche Angst. Jede von ihnen hat eine Grenze überschritten, der ich selbst ausgewichen bin. Gerade diese unüberschrittene Grenze (die Grenze, jenseits derer mein Ich endet) zieht mich an. Erst dahinter beginnt das große Geheimnis, nach dem der Roman fragt.
Ein Roman ist nicht die Beichte eines Autors, sondern die Erforschung dessen, was das menschliche Leben bedeutet in der Falle, zu der die Welt geworden ist. Aber genug. Kehren wir zu Tomas zurück.
Er ist allein in der Wohnung und schaut über den Hof auf die schmutzige Mauer des Wohnblocks gegenüber. Er fühlt eine Art Sehnsucht nach dem hochgewachsenen Mann mit dem großen Kinn und nach dessen Freunden, die er nicht kennt und zu denen er nicht gehört. Es kommt ihm vor, als habe er auf einem Bahnsteig eine schöne Unbekannte getroffen, die, noch bevor er
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