Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins
willst die Petition für die Amnestie nicht unterschreiben?« Was immer er auch sagen mochte, er drohte.
Der Redakteur hatte schon vor einer Weile gesagt, was er von denen hielt, die zwar einverstanden waren, daß die politischen Gefangenen amnestiert würden, aber tausend Gründe erfanden, um die Petition nicht zu unterschreiben.
Seiner Ansicht nach waren solche Überlegungen bloße Ausflüchte, hinter denen sich Feigheit versteckte. Was sollte Tomas also sagen?
Es war still, und nun mußte auch er auf einmal lachen; er wies auf die Zeichnung an der Wand: »Der da droht mir und fragt, ob ich unterschreibe oder nicht. Unter seinem Blick läßt sich schwer überlegen!«
Alle drei lachten.
Tomas sagte dann: »Gut. Ich will es mir überlegen. Könnten wir uns irgendwann in den nächsten Tagen sehen?«
»Es wird mir immer eine Freude sein, Sie zu sehen«, sagte der Redakteur, »aber für diese Petition wäre es dann schon zu spät. Wir wollen sie morgen dem Präsidenten übergeben.«
»Morgen?« Tomas erinnerte sich, wie der dickliche Polizist ihm das Papier mit dem vorgefaßten Text hingehalten hatte, mit dem er gerade diesen hochgewachsenen Mann mit dem großen Kinn hätte denunzieren sollen. Alle wollten ihn zwingen, Texte zu unterschreiben, die er nicht selber geschrieben hatte.
Der Sohn sagte: »Hier gibt es doch nichts zu überlegen.«
Die Worte waren aggressiv, der Tonfall jedoch fast bittend. Sie schauten sich in die Augen, und Tomas bemerkte, daß sein Sohn die Oberlippe leicht nach links hochzog, wenn er sich konzentrierte. Diese Grimasse kannte er aus seinem eigenen Gesicht, wenn er sich aufmerksam im Spiegel betrachtete und kontrollierte, ob er sauber rasiert war. Er konnte sich eines gewissen Unbehagens nicht erwehren, als er diesen Tick nun in einem fremden Gesicht erblickte.
Wenn die Eltern von Anfang an mit ihren Kindern zusammenleben, gewöhnen sie sich an solche Ähnlichkeiten, die ihnen banal vorkommen, und wenn sie sie manchmal doch bemerken, können sie sie sogar amüsant finden. Aber für Tomas war es das erste Mal, daß er mit seinem Sohn sprach!
Er war es nicht gewohnt, der eigenen schiefen Lippe gegenüberzusitzen!
Stellen Sie sich vor, man amputiert Ihnen eine Hand und näht sie einem anderen Menschen an. Dieser Mensch säße Ihnen dann gegenüber und würde mit der Hand in allernächster Nähe gestikulieren. Sie würden sie anstarren wie ein Gespenst. Und obwohl es sich um die Ihnen bestens vertraute eigene Hand handelte, wären Sie entsetzt bei der Vorstellung, von ihr berührt zu werden!
Der Sohn fuhr fort: »Du bist doch auf der Seite der Verfolgten!«
Die ganze Zeit über hatte Tomas überlegt, ob sein Sohn ihn wohl siezen oder duzen würde. Bisher hatte er die Sätze so formuliert, daß er einer Entscheidung ausweichen konnte.
Nun endlich hatte er sich entschieden. Er duzte ihn, und Tomas war auf einmal sicher, daß es in dieser Szene nicht um die Amnestie politischer Gefangener ging, sondern um seinen Sohn: Unterschrieb er, so würden ihre Schicksale einander näherkommen und Tomas würde mehr oder weniger verpflichtet sein, sich mit ihm anzufreunden. Unterschrieb er nicht, so blieb ihre Beziehung auf dem Nullpunkt wie bisher, aber diesmal nicht durch seinen, sondern durch den Willen des Sohnes, der sich von seinem Vater wegen dessen Feigheit lossagen würde.
Er befand sich in der Lage eines Schachspielers, der keinen Zug mehr hat, um der Niederlage zu entrinnen, und die Partie aufgeben muß. Es war ohnehin egal, ob er unterschrieb oder nicht. Es änderte nichts, weder an seinem Schicksal noch am Schicksal der politischen Gefangenen.
»Gebt es her«, sagte er und nahm das Papier.
Als wollte er ihn für seinen Entschluß belohnen, sagte der Redakteur: »Über Ödipus haben Sie sehr schön geschrieben.«
Der Sohn reichte ihm den Füllfederhalter und fügte hinzu: »Einige Gedanken sind wie Attentate.«
Das Lob des Redakteurs freute ihn, aber die Metapher seines Sohnes schien ihm zu hochtrabend und außerdem fehl am Platze. Er sagte: »Leider hat dieses Attentat nur mich getroffen. Wegen dieses Artikels kann ich nicht mehr operieren.«
Es klang kühl und fast feindselig.
Offenbar um diese kleine Dissonanz zu beseitigen, sagte der Redakteur (als wollte er sich entschuldigen): »Aber Ihr Artikel hat vielen Menschen geholfen!«
Unter den Worten »den Menschen helfen« hatte Tomas sich von Kindheit an nur eine einzige Tätigkeit vorstellen können: Arzt zu sein.
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