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Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins

Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins

Titel: Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Milan Kundera
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über ihn.
    Nun hätte er ihn geradeheraus fragen können, wie sein Verhältnis zur Mutter sei, doch in Gegenwart einer  fremden Person schien ihm das taktlos.
    Endlich kam der Redakteur zum Kern der Sache. Er sagte, es säßen immer mehr Leute einzig dafür im Gefängnis, daß sie eine eigene Meinung vertraten, und er schloß seine Ausführungen mit den Worten: »Und da haben wir uns gesagt, man sollte etwas dagegen unternehmen.«
    »Und was wollt ihr tun?« fragte Tomas.
    In diesem Moment ergriff sein Sohn das Wort. Es war das erste Mal, daß er ihn sprechen hörte. Überrascht stellte er fest, daß er stotterte.
    »Wir haben Nachrichten«, sagte er, »daß politische Gefangene schlecht behandelt werden. Einige sind in einem sehr kritischen Zustand. Da haben wir uns gesagt, es wäre gut, eine Petition zu verfassen, die von bedeutenden tschechischen Intellektuellen unterschrieben würde, deren Namen auch heute noch Gewicht haben.«
    Nein, es war kein Stottern, es war eher ein leichtes Stocken, das den Fluß seiner Rede etwas hemmte, so daß jedes ausgesprochene Wort wider seinen Willen betont und hervorgehoben wirkte. Er war sich dessen offensichtlich bewußt, und sein Gesicht, das eben erst die normale Farbe zurückgewonnen hatte, errötete wieder.
    »Wollt ihr von mir einen Rat, an wen ihr euch in meinem Fachgebiet wenden sollt?« fragte Tomas.
    »Nein«, lachte der Redakteur, »Ihren Rat wollen wir nicht. Wir wollen Ihre Unterschrift!«
    Schon wieder fühlte er sich geschmeichelt. Schon wieder war er erfreut, daß man noch nicht vergessen hatte, daß er Chirurg war! Er wehrte nur aus Bescheidenheit ab: »Hören Sie! Die Tatsache, daß ich vor die Tür gesetzt worden bin, beweist noch lange nicht, daß ich ein bedeutender Arzt bin!«
    »Wir haben nicht vergessen, was Sie in unserer Zeitung geschrieben haben«, sagte der Redakteur lächelnd zu Tomas.
    In einer Art Begeisterung, die Tomas vermutlich entging, seufzte sein Sohn: »Ja!«
    Tomas sagte: »Ich weiß nicht, ob mein Name auf einer Petition politischen Häftlingen helfen kann. Sollten das nicht vielmehr diejenigen unterschreiben, die noch nicht in Ungnade gefallen sind und sich wenigstens einen minimalen Einfluß auf die Machthaber erhalten haben?«
    Wieder lachte der Redakteur: »Natürlich sollten sie das!«
    Auch Tomas' Sohn lachte, und es war das Lachen eines Menschen, der schon manches im Leben begriffen hatte: »Nur werden diese Leute niemals unterschreiben.«
    Der Redakteur fuhr fort: »Das heißt nicht etwa, daß wir sie nicht besucht hätten! So nett sind wir nun auch wieder nicht, ihnen diese Verlegenheit zu ersparen«, lachte er, »Sie hätten ihre Ausreden hören sollen. Einfach großartig!«
    Der Sohn lachte zustimmend.
    Der Redakteur fuhr fort: »Alle behaupten selbstverständlich, sie seien völlig mit uns einverstanden, aber man sollte anders vorgehen; taktischer, vernünftiger und diskreter. Sie haben Angst zu unterschreiben und fürchten gleichzeitig, daß wir schlecht über sie denken, wenn sie nicht unterschreiben.«
    Der Sohn und der Redakteur lachten wieder.
    Der Redakteur überreichte Tomas ein Blatt Papier mit einem kurzen Text, der den Präsidenten der Republik in verhältnismäßig ehrerbietigem Ton aufforderte, die politischen Gefangenen zu amnestieren.
    Tomas versuchte, rasch zu überlegen: die politischen Gefangenen amnestieren? Würde man sie deshalb amnestieren, weil einige vom Regime geächtete Leute (also potentielle politische Gefangene) den Präsidenten darum baten? So eine Petition konnte doch nur zur Folge haben, daß man die politischen Gefangenen nicht amnestieren würde, selbst wenn man sie zufällig gerade amnestieren wollte!
    Der Sohn unterbrach seine Überlegungen: »Es geht hauptsächlich darum, bekanntzumachen, daß es in diesem Land noch eine Handvoll Leute gibt, die keine Angst haben. Und zu zeigen, wer in Wirklichkeit wo steht. Die Spreu vom Weizen zu trennen.«
    Tomas überlegte: Ja, das ist wahr; was hatte das aber mit den politischen Gefangenen zu tun? Entweder ging es darum, ihre Amnestie zu erwirken, oder die Spreu vom Weizen zu trennen. Das waren zwei grundverschiedene Dinge.
    »Sie zögern, Herr Doktor?« fragte der Redakteur.
    Ja. Er zögerte. Aber er hatte Angst, es zuzugeben. Ihm gegenüber hing an der Wand das Bild des Soldaten, der mit seinem Finger drohte und sagte: »Du zögerst noch, in die Rote Armee einzutreten?« Oder: »Du hast die Zweitausend Worte noch nicht unterschrieben?« Oder: »Du

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