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Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins

Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins

Titel: Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Milan Kundera
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sie ansprechen konnte, in den Schlafwagen eines Zuges gestiegen ist, der nach Istanbul oder Lissabon fährt.
    Wieder versuchte er sich vorzustellen, wie er sich hätte richtig verhalten sollen. Und obwohl er bemüht war, alle Gefühle zur Seite zu schieben (die Bewunderung für den Redakteur, die Gereiztheit, die sein Sohn in ihm auslöste), war er immer noch nicht sicher, ob er den Text, den sie ihm vorgelegt hatten, hätte unterschreiben sollen.
    Ist es richtig, die Stimme zu erheben, wenn ein Mensch zum Schweigen gebracht wird? Ja.
    Aber auf der anderen Seite: Warum haben die Zeitungen dieser Petition so viel Platz eingeräumt? Die (total vom Staat manipulierte) Presse hätte doch die ganze Affäre ebensogut verschweigen können, und niemand hätte etwas erfahren.
    Wenn sie darüber berichtete, bedeutete dies, daß sie den Herrschern des Landes gelegen kam! Sie war ein Geschenk des Himmels, um eine neue, große Verfolgungswelle zu rechtfertigen und in Gang zu setzen.
    Wie hätte er sich also richtig verhalten sollen? Unterschreiben oder nicht unterschreiben?
    Man kann die Frage auch so formulieren: Ist es besser zu schreien und so sein eigenes Ende zu beschleunigen? Oder zu schweigen und sich so ein langsameres Sterben zu erkaufen?
    Gibt es überhaupt eine Antwort auf diese Fragen?
    Und von neuem kam ihm ein Gedanke, den wir schon kennen: das menschliche Leben findet nur einmal statt, und deshalb werden wir niemals feststellen können, welche von unseren Entscheidungen gut und welche schlecht waren, weil wir uns in einer gegebenen Situation nur einmal entscheiden können. Es wurde uns kein zweites, drittes oder viertes Leben geschenkt, so daß wir verschiedene Entscheidungen miteinander vergleichen könnten.
    Mit der Geschichte verhält es sich ähnlich wie mit dem Leben des Individuums. Es gibt nur eine Geschichte der Tschechen. Eines Tages wird sie zu Ende sein wie das Leben von Tomas, und sie wird sich nicht ein zweites Mal wiederholen können.
    Im Jahre 1618 erkühnten sich die böhmischen Stände, ihre Religionsfreiheit zu verteidigen; sie waren wütend auf den in Wien residierenden Kaiser und warfen zwei seiner hohen Würdenträger aus einem Fenster der Prager Burg. So begann der Dreißigjährige Krieg, der zu einer fast vollständigen Vernichtung des tschechischen Volkes führte. Hätten die Tschechen damals mehr Vorsicht als Mut an den Tag legen sollen? Die Antwort scheint einfach, ist es aber nicht.
    Dreihundertzwanzig Jahre später, im Jahre 1938, nach der Münchner Konferenz, beschloß die ganze Welt, das Land der Tschechen Hitler zu opfern. Hätten sie nun versuchen sollen, allein gegen eine achtfache Übermacht zu kämpfen? Im Unterschied zum Jahre 1618 zeigten sie dieses Mal mehr Vorsicht als Mut. Mit ihrer Kapitulation begann der Zweite Weltkrieg, der zum (endgültigen) Verlust der Freiheit ihres Volkes führte, für viele Jahrzehnte oder gar Jahrhunderte.
    Hätten sie jetzt mehr Mut als Vorsicht zeigen sollen? Was hätten sie tun sollen?
    Könnte sich die Geschichte der Tschechen wiederholen, wäre es gewiß nicht schlecht, jedesmal die andere Möglichkeit zu erproben und dann die beiden Ergebnisse zu vergleichen. Ohne ein solches Experiment bleiben jedoch alle Überlegungen ein Spiel von Hypothesen.
    Einmal ist keinmal. Die Geschichte Böhmens wird sich nicht ein zweites Mal wiederholen, und ebensowenig die Geschichte Europas. Die Geschichte Böhmens und die Geschichte Europas sind zwei von der fatalen Unerfahrenheit der Menschheit gezeichnete Skizzen. Die Geschichte ist genauso leicht wie ein einzelnes Menschenleben, unerträglich leicht, leicht wie Federn, wie aufgewirbelter Staub, wie etwas, das morgen nicht mehr sein wird.
    Noch einmal erinnerte sich Tomas mit einer Art Wehmut, ja fast mit Liebe, an den langen, gebeugten Redakteur. Dieser Mensch hatte so gehandelt, als wäre die Geschichte nicht eine Skizze, sondern ein vollendetes Bild. Er handelte so, als könnte sich alles, was er tat, in der Ewigen Wiederkehr unzählige Male wiederholen, und er war dabei sicher, nie über sein Tun in Zweifel zu geraten. Er war von seiner Wahrheit überzeugt und betrachtete dies keineswegs als Zeichen einer Beschränkung, sondern als Merkmal der Ehrenhaftigkeit. Dieser Mensch lebte in einer anderen Geschichte als Tomas: in einer Geschichte, die nicht Skizze war (oder es von sich nicht wußte).
    16.
    Einige Tage später fiel Tomas ein Gedanke ein, den ich als Ergänzung zum vorigen Kapitel hier anführen

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