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Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins

Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins

Titel: Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Milan Kundera
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mehr die gleichen wie früher. Die Hälfte seiner Bekannten war emigriert, und von der zurückgebliebenen Hälfte war die Hälfte gestorben. Das ist eine Tatsache, die von keinem Historiker erwähnt wird: Die Jahre nach der Invasion waren eine Periode der Begräbnisse; die Sterbequote lag viel höher als sonst. Ich spreche dabei nicht von den (eher seltenen) Fällen, wo jemand zu Tode gehetzt wurde wie Jan Prochazka. Vierzehn Tage, nachdem der Rundfunk täglich seine
    Privatgespräche ausgestrahlt hatte, mußte er ins Krankenhaus gebracht werden. Der Krebs, der vermutlich schon vorher ruhig in seinem Körper geschlummert hatte, brach plötzlich auf wie eine Rose. Die Operation fand unter Assistenz der Polizei statt, die sich allerdings nicht weiter für ihn interessierte, als sie feststellte, daß der Romancier unheilbar und zum Tode verurteilt war, und man ließ ihn in den Armen seiner Frau sterben. Aber es starben auch Menschen, die nicht direkt verfolgt worden waren. Die Hoffnungslosigkeit, die das Land ergriffen hatte, drang durch die Seele in den Körper ein und zermürbte ihn. Einzelne flüchteten verzweifelt vor dem Wohlwollen des Regimes, das sie mit Ehren beglücken und auf diese Weise zwingen wollte, sich an der Seite der neuen Machthaber zu zeigen. So starb der Dichter Frantisek Hrubin auf der Flucht vor der Liebe der Partei. Der Kulturminister, vor dem er sich verzweifelt versteckt hatte, holte ihn erst ein, als er im Sarg lag. An diesem Sarg hielt er eine Rede über die Liebe des Dichters zur Sowjetunion.
    Vielleicht wollte er Hrubin mit dieser Schändlichkeit wieder auferwecken. Doch die Welt war so häßlich geworden, daß niemand von den Toten auferstehen wollte.
    Tomas ging ins Krematorium, um dem Begräbnis eines berühmten Biologen beizuwohnen, der aus der Universität und der Akademie hinausgeworfen worden war. Auf der Todesanzeige durfte die Stunde der Beisetzung nicht genannt werden, damit die Zeremonie sich nicht etwa in eine Demonstration verwandelte, und erst in letzter Minute erfuhren die Hinterbliebenen, daß der Tote um halb sieben Uhr morgens eingeäschert würde.
    Als Tomas den Saal des Krematoriums betrat, begriff er zunächst nicht, was da vor sich ging: Der Raum war hellerleuchtet wie ein Filmstudio. Überrascht schaute er sich um und bemerkte, daß an drei Stellen tatsächlich Kameras angebracht waren. Nein, es war nicht das Fernsehen, es war die Polizei, die das Begräbnis filmte, um danach herausfinden zu können, wer daran teilgenommen hatte. Ein alter Kollege des toten Wissenschaftlers, der immer noch Akademiemitglied war, brachte den Mut auf, am Sarg zu sprechen. Er hatte sicher nicht damit gerechnet, an diesem Tag zum Filmschauspieler zu werden.
    Als die Zeremonie beendet war und alle der Familie des Verschiedenen kondoliert hatten, sah Tomas in einer Ecke des Saales eine kleine Gruppe von Männern stehen, unter ihnen auch den hochgewachsenen, gebeugten Redakteur.
    Wieder empfand er eine Art Wehmut für diese Menschen, die sich vor nichts fürchteten und gewiß untereinander in großer Freundschaft verbunden waren. Er ging auf sie zu, lächelte und wollte den gebeugten Mann begrüßen, doch der sagte: »Passen Sie auf, Herr Doktor, treten Sie lieber nicht näher!«
    Der Satz war sonderbar. Er konnte ihn als aufrichtige, freundschaftliche Warnung auslegen (»Passen Sie auf, wir werden gefilmt, wenn Sie mit uns reden, so kann das für Sie ein Verhör mehr bedeuten«), oder aber er war ironisch gemeint (»Sie hatten nicht den Mut, eine Petition zu unterschreiben, seien Sie also konsequent und verkehren Sie nicht mit uns!«). Welche Bedeutung auch immer die richtige sein mochte, Tomas gehorchte und entfernte sich. Er hatte das Gefühl, die schöne Frau auf dem Bahnsteig sei in diesem Moment in den Schlafwagen des Schnellzuges gestiegen, und als er ihr sagen wollte, daß er sie bewunderte, hatte sie den Finger auf den Mund gelegt und ihm zu sprechen verboten.
    Am Nachmittag desselben Tages hatte er noch eine andere interessante Begegnung. Er putzte das Schaufenster eines großen Schuhgeschäftes, als sich ein junger Mann neben ihn stellte. Er drückte seine Nase an die Scheibe und studierte die Preisschilder.
    »Sie haben die Preise erhöht«, sagte Tomas, ohne aufzuhören, mit dem Wischer die Scheibe zu trocknen.
    Der Mann sah sich um. Er war der Kollege aus dem Krankenhaus, den ich S. genannt habe, der Mann, der sich einst lächelnd darüber entrüstet hatte, daß Tomas eine

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