Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins
dem alle Straßen durch russische Namen umbenannt worden waren, und wo sie einen ehemaligen Patienten von Tomas trafen.
Diese Begegnung erschütterte ihn. Auf einmal hatte ihn wieder jemand als Arzt angesprochen, und er spürte, wie sein früheres Leben wieder auf ihn zukam, das Leben mit seiner angenehmen Regelmäßigkeit, mit der Untersuchung der Kranken, mit ihren vertrauensvollen Blicken, denen er keine besondere Aufmerksamkeit zu widmen schien, die ihn in Wirklichkeit aber freuten und die er brauchte.
Dann fuhren sie nach Hause zurück, und Tomas dachte darüber nach, daß ihre Rückkehr von Zürich nach Prag eine katastrophale Fehlentscheidung gewesen war. Seine Augen waren krampfhaft auf die Straße gerichtet, da er Teresa nicht ansehen wollte. Er war ihr böse. Ihre Gegenwart an seiner Seite offenbarte sich ihm in ihrer unerträglichen Zufälligkeit.
Warum sitzt sie hier neben ihm? Wer hat sie ins Körbchen gelegt und auf dem Wasser ausgesetzt? Und warum mußte sie gerade am Ufer seines Bettes stranden? Und warum gerade sie und nicht eine andere Frau?
Sie fuhren dahin, und keiner sprach ein Wort. Zu Hause aßen sie schweigend ihr Abendbrot.
Das Schweigen lag wie ein Unglück zwischen ihnen. Von Minute zu Minute wurde es schwerer. Um sich davon zu befreien, gingen sie früh schlafen. In der Nacht mußte er sie wecken, weil sie weinte.
Sie erzählte ihm: »Ich war begraben. Schon lange. Du hast mich jede Woche einmal besucht. Du hast ans Grab geklopft, und ich bin herausgekommen. Ich hatte die Augen voller Erde.
Du hast gesagt: So kannst du ja gar nichts sehen, und hast mir die Erde aus den Augen gewischt.
Und ich habe zu dir gesagt: Ich sehe ohnehin nichts. Ich habe Löcher statt Augen.
Dann bist du eines Tages für lange Zeit weggeblieben, und ich wußte, daß du bei einer fremden Frau bist. Es vergingen Wochen, und du kamst nicht wieder. Ich hatte Angst, dich zu verpassen, und habe überhaupt nicht geschlafen. Endlich hast du wieder ans Grab geklopft, doch ich war so erschöpft nach diesen schlaflosen Wochen, daß ich fast keine Kraft mehr fand, nach oben zu gehen. Als ich es endlich doch geschafft hatte, sahst du ganz enttäuscht aus. Du hast mir gesagt, ich sähe schlecht aus. Ich fühlte, daß du mich häßlich fandest mit meinen eingefallenen Wangen und den fahrigen Gesten.
Ich habe mich entschuldigt: Sei mir nicht böse, ich habe die ganze Zeit nicht geschlafen.
Und du hast mit beschwichtigender Stimme, die aber falsch klang, gesagt: Siehst du. Du mußt dich ausruhen. Du solltest einen Monat Urlaub nehmen.
Und ich wußte sehr wohl, was du unter Urlaub verstehst!
Ich wußte, daß du mich wieder einen ganzen Monat lang nicht sehen wolltest, weil du mit einer anderen zusammen sein würdest. Du bist fortgegangen und ich bin ins Grab hinabgestiegen, und wieder wußte ich, daß ich nicht schlafen würde, um dich nicht zu verpassen, und wenn du nach einem Monat wiederkämest, wäre ich noch häßlicher als heute und du wärest noch enttäuschter.«
Niemals hatte er etwas Qualvolleres gehört als diese Erzählung. Er hielt Teresa fest in seinen Armen, er fühlte, wie ihr Körper zitterte und es schien ihm, daß er seine Liebe zu ihr nicht mehr ertragen konnte.
Die Erdkugel könnte durch eine Bombenexplosion erbeben, das Vaterland jeden Tag von einem anderen Eindringling geplündert werden, alle Einwohner seiner Straße könnten zur Hinrichtung abgeführt werden, all das hätte er leichter ertragen, als er sich einzugestehen wagte.
Doch die Traurigkeit eines einzigen Traumes von Teresa, die konnte er nicht ertragen.
Er kehrte ins Innere des Traumes zurück, den sie ihm gerade erzählt hatte. Er stellte sich vor, wie er ihr Gesicht streichelte und unauffällig, damit sie es nicht bemerkte, die Erde aus ihren Augenhöhlen wischte. Dann hörte er, wie sie ihm den unvorstellbar qualvollen Satz sagte: »Ich sehe ohnehin nichts. Ich habe Löcher statt Augen.«
Sein Herz zog sich zusammen, und er glaubte, einem Infarkt nahe zu sein.
Teresa war wieder eingeschlafen, aber er konnte keinen Schlaf mehr finden. Er stellte sich ihren Tod vor. Sie war tot und hatte Alpträume; da sie aber tot war, konnte er sie nicht wecken. Ja, das ist der Tod: Teresa schläft, hat Alpträume und er kann sie nicht wecken.
19.
In den fünf Jahren, die vergangen waren, seit die russische Armee in Tomas' Heimat eingedrungen war, hatte Prag sich sehr verändert. Die Menschen, die Tomas in den Straßen traf, waren nicht
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