Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins
Selbstkritik schreiben würde. Tomas war erfreut über die Begegnung (aus reiner, naiver Freude, die unvorhergesehene Begegnungen einem bereiten), doch bemerkte er im Blick seines Kollegen (in der ersten Sekunde, noch bevor S. die Zeit fand, sich zu sammeln), daß er unangenehm überrascht war.
»Wie geht es dir?« fragte S.
Bevor Tomas etwas antworten konnte, begriff er, daß S. sich für seine Frage schämte. Selbstverständlich war es dumm, daß ein Arzt, der seinen Beruf ausüben durfte, einen Arzt, der Fenster putzte, fragte, »Wie geht es dir?«
Um ihm seine Verlegenheit zu nehmen, antwortete Tomas so fröhlich wie nur möglich: »Es geht mir blendend!«, doch fühlte er sofort, daß dieses »blendend« gegen seinen Willen (und gerade, weil er es so fröhlich hatte aussprechen wollen) wie bittere Ironie klang.
Deshalb fügte er unverzüglich hinzu: »Was gibt es Neues in der Klinik?«
S. antwortete: »Nichts. Alles läuft normal.«
Auch diese Antwort war, obwohl sie so neutral wie möglich sein sollte, absolut fehl am Platze, und beide wußten es, und sie wußten auch, daß der andere es wußte. Wie konnte alles normal sein, wenn einer von ihnen Fenster putzen mußte?
»Und der Chefarzt?« fragte Tomas.
»Seht ihr euch denn nicht?« fragte S.
»Nein«, antwortete Tomas.
Das entsprach der Wahrheit. Seit er das Krankenhaus verlassen hatte, hatte er den Chefarzt nicht mehr gesehen, obwohl sie früher ausgezeichnet zusammengearbeitet hatten und fast geneigt waren, sich als Freunde zu betrachten. Was immer er auch tun mochte, das »Nein«, das er eben ausgesprochen hatte, enthielt eine Art Trauer, und Tomas ahnte, daß S. es ihm übelnahm, diese Frage überhaupt gestellt zu haben, weil er, S., sich ebensowenig wie der Chefarzt bei Tomas erkundigt hatte, wie es ihm gehe und ob er etwas brauche.
Das Gespräch zwischen den beiden ehemaligen Kollegen war unmöglich geworden, wenn auch beide, insbesondere Tomas, dies bedauerten. Er war seinen Kollegen nicht böse, daß sie ihn vergessen hatten. Er hätte dies dem jungen Mann gern erklärt. Er hätte ihm gern gesagt: Du brauchst dich nicht zu schämen! Es ist normal und ganz in Ordnung, daß ihr nicht mit mir verkehrt. Deswegen brauchst du keine Komplexe zu haben. Ich bin ganz einfach froh, dich zu sehen!
Aber selbst das fürchtete er zu sagen, weil all seine bisherigen Worte so anders geklungen hatten, als er es wollte, und auch dieser Satz für seinen Kollegen ironisch und aggressiv gewesen wäre.
»Sei mir nicht böse«, sagte S. schließlich, »ich habe es sehr eilig«, und er reichte ihm die Hand. »Ich werde dich anrufen.«
Als seine Kollegen ihn seinerzeit für seine vermeintliche Feigheit verachteten, hatten sie ihm alle zugelächelt. Nun, da sie ihn nicht mehr verachten konnten, da sie ihn sogar achten mußten, gingen sie ihm aus dem Weg.
Übrigens luden ihn auch seine einstigen Patienten nicht mehr ein und begrüßten ihn nicht mehr mit Champagner.
Die Situation deklassierter Intellektueller war nichts Außergewöhnliches mehr; sie war zu einem Dauerzustand geworden, dem zuzuschauen erbärmlich war.
21.
Er kehrte nach Hause zurück, legte sich hin und schlief früher ein als sonst. Nach etwa einer Stunde wurde er durch Magenschmerzen geweckt. Es waren die altbekannten Beschwerden, die immer in Momenten der Depression auftraten. Er öffnete die Hausapotheke und fluchte. Es waren keine Medikamente da. Er hatte vergessen, neue zu besorgen. Er versuchte, den Anfall durch Willenskraft zu unterdrücken, und es gelang ihm einigermaßen, doch einschlafen konnte er nicht mehr. Als Teresa um halb zwei früh zurückkam, hatte er Lust, mit ihr zu plaudern. Er erzählte ihr von dem Begräbnis, von dem Redakteur, der sich geweigert hatte, mit ihm zu sprechen, und von seiner Begegnung mit dem Kollegen S.
»Prag ist häßlich geworden«, sagte Teresa.
»Das stimmt«, sagte Tomas.
Nach einer Weile sagte Teresa leise: »Das beste wäre, wir würden von hier wegziehen.«
»Gewiß«, sagte Tomas, »nur kann man nirgendwohin gehen.«
Er saß im Pyjama auf dem Bettrand, sie setzte sich neben ihn und legte ihren Arm um seinen Körper.
Sie sagte: »Aufs Land.«
»Aufs Land?« wunderte er sich.
»Dort wären wir allein. Dort würdest du weder den Redakteur noch deine ehemaligen Kollegen treffen. Dort sind die Menschen anders und die Natur ist so geblieben, wie sie immer war.«
Tomas verspürte in diesem Augenblick wieder leichte Schmerzen im Magen, er kam sich
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