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Die ungehorsame Tochter

Die ungehorsame Tochter

Titel: Die ungehorsame Tochter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Petra Oelker
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war wirklich kein Thema für ein sonntägliches Essen, schon gar nicht unter einer Robinie – geführte Debatte um die
     möglichen Geheimnisse und den Umfang des Erbes begann, bemerkte niemand, wie Helena sich zurücklehnte und in ihren Gedanken
     davonwanderte.
    Sie hatte von Rosinas letztem Brief berichtet, von dem davor hingegen, einem sehr viel längeren, würde sie nichts sagen. Auch
     Jean, nur ihm hatte sie ihn gezeigt, würde sich nun zusammenreißen und schweigen. RosinasWiedersehen mit ihrem Vater war eine Sache, von der nur sie selbst erzählen sollte.
    Im Gegensatz zum letzten war dieser Brief lang gewesen. Sie schilderte darin ihr Wiedersehen mit den Plätzen ihrer Kindheit,
     dass das Haus viel kleiner sei, als sie es erinnere, die Wälder tiefer und dunkler und der Garten beinahe verwildert. Der
     jüngste der Hunde lebte und bewachte noch den Garten, aber er hatte sich nicht an sie erinnert. Dann schrieb sie von den Menschen,
     auch von dem jungen Diener und dem Gärtner, denen sie die Kleider für ihre Flucht gestohlen hatte (beide waren noch da), von
     der Köchin, den Mägden, den anderen Bediensteten. Alle bemühten sich um die für die Tochter des Hauses angemessene Ehrerbietung,
     keinem, so schien es ihr, gelang sie ohne Falsch.
    Sie berichtete auch von den vielen Leuten aus den umliegenden Dörfern, deren Weg plötzlich über die Auffahrt des Hauses führte,
     und von den Kutschen, die wohl langsam vorbeirollten, von denen aber keine hielt, um die Heimgekehrte zu begrüßen.
    Schließlich schrieb sie von Alexander Lenthe, von der Erschütterung des Wiedersehens, dem tiefen Gefühl des Heimgekommenseins.
     Und wie schnell dieses köstliche Gefühl der Zugehörigkeit schwand. Sehnsucht, Schmerz und Einsamkeit malen goldene Bilder,
     aber es sind eben nur Bilder. Traumbilder, die der Gegenwart nicht standhalten können. Sosehr sie sich wünschten, sosehr sie
     sich auch bemühten, einander zu verzeihen und neue Brücken zu finden, es gelang doch nicht. Hinter jedem freundlichen Wort
     lauerte ein unausgesprochener Vorwurf, hinter jedem forschenden Blick Misstrauen und Zorn. So wurden sie sprachlos, bevor
     sie wirklich miteinandergesprochen hatten, und Helena hoffte innig, dass es Rosina in diesen letzten Wochen mit ihrem Vater schließlich doch noch
     gelungen war, die Mauer zu überwinden.
    Plötzlich merkte sie, dass alle schwiegen. Sonnin griff nach seinem Glas, leerte es bedächtig und stellte es umständlich auf
     den Tisch zurück.
    «Dann werden wir ihr gratulieren können», sagte er. «Pardon, nicht zum Tod ihres Vaters natürlich, aber sie wird nun eine
     wohlhabende Frau sein.»
    Er hatte niemand Besonderen angesprochen, und so antwortete auch niemand.
    «Jedenfalls», sagte Augusta endlich, «wird sie nicht mehr arm sein. Aber sie wird trotzdem nicht einfach fortbleiben, das
     glaube ich nicht.»
    «Niemals!», rief Jean. «Sie kommt natürlich zurück. Ihr denkt doch nicht ernsthaft, sie werde sich dort in Seidenröcken in
     einer Sänfte herumtragen lassen, wieder im Damensattel reiten und nur noch Französisch parlieren, mit gepuderten Zöpfen und
     einen Läusekratzer in der einen, einen Fächer in der anderen Hand? Das ist unmöglich, nicht Rosina, wenn sie auch zehnmal
     Emma Lenthe heißt. Emma! Was für ein unpassender Name! Wenn sie vermögend ist, ich sage
wenn,
wer weiß denn, ob der eine Bruder nicht am Ende genauso arm gewesen ist wie der andere? Diese Minen sind nicht besser als
     Hasardspiele! Natürlich wird sie zurückkommen, vermögend oder nicht. Und dann, ja, dann können wir ein Theater bauen, hier
     in Altona, diese Scheune ist doch eine Schande für die zweitgrößte Stadt des dänischen Königs. Ein richtiges Theater, ein
     festes Haus, in dem man die besten Kulissen bauen kann, mit funktionablerOber- und Unterbühne, den besten Maschinerien, samtgepolsterten Logen, eine   …»
    «Nichts für ungut», rief eine vergnügte Stimme mitten in Jeans schillernden Zukunftstraum, «wirklich nicht. Aber wo bleibt
     das Feuerwerk, wo die Fahnen und Trommelwirbel? Was ist das für ein unangemessener Empfang?»
    «Christian», schrie Augusta auf, sprang flinker, als es ihre Jahre eigentlich erlaubten, von ihrem Sessel und eilte – wieder
     einmal ohne Schuhe – über den Rasen ihrem Großneffen entgegen. «Wieso bist du hier? Woher kommst du? Wo ist Rosina, wo ist   …»
    Christian Herrmanns fing seine Großtante auf, umarmte sie und küsste sie lachend auf die

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