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Die ungehorsame Tochter

Die ungehorsame Tochter

Titel: Die ungehorsame Tochter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Petra Oelker
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Erzählwilligen siegte Helenas helle Stimme, was ein Glück war, denn hätte Jean das Wort behalten, wäre die
     ganze Geschichte kaum vor Sonnenuntergang erklärt gewesen.
    «Es war eine ungeheure Fortune», schloss Helena, «dass Filippo und Christian überhaupt den richtigen Weg gefunden haben. Und
     hätte Rosina im Fallen nicht aufgeschrien, womöglich wären sie auf der anderen Seite der Schlucht an ihr vorbeigeritten, und
     sie wäre auch gefallen, und   …»
    An dieser Stelle schluckte sie und verstummte, so wie immer, wenn sie die Geschichte erzählte. Die Vorstellung, was hätte
     geschehen können, war ihr unerträglich.
    Es war nun schon viele Wochen her, seit die erste eilige Nachricht von Christian gekommen war: Rosina sei gerettet, er und
     Filippo würden sie nun zu ihrem Vater begleiten. Klemens hatte er nicht erwähnt, was alle außerordentlich empörte. Bald danach
     kam der erste Briefvon Rosina. Darin erzählte sie, was während ihres langen Rittes und schließlich auf dem schmalen Pfad zu der Mine im Harz
     geschehen war.
    Als ich Filippos Stimme hörte,
schrieb sie zum Ende,
dachte ich, ich sei tot. Er konnte ja gar nicht da sein. Aber dann war da auch Christians Stimme, er warf ein Seil herunter,
     und auch wenn ich (gewiss zu meinem Glück!) nicht mehr genau erinnere, wie alles vor sich ging, lag ich irgendwann wieder
     sicher auf dem Pfad, und Christian flößte mir Madame Augustas unvergleichlich belebenden Rosmarinbranntwein ein.
    Der Brief schloss mit knappen Auskünften über den Fortgang der Reise.
    Rosina sah nach ihrem Sturz zwar übel zugerichtet aus, dennoch war sie nicht ernstlich verletzt worden. So rasteten sie nur
     zwei Tage in Wernigerode, bevor sie weiterritten. Christian meldete dort, was geschehen war, wobei Rosinas wahre Identität
     als Frau in Männerkleidern einigen Aufruhr verursachte. Nach Klemens wurde gesucht, aber er blieb verschwunden, und auch wenn
     Rosina dazu nur diesen einen mageren Satz geschrieben hatte, glaubte Helena zwischen den Zeilen Beunruhigung zu lesen.
    «Ich denke, wir müssen uns wegen dieses Cousins nicht sorgen, Helena», sagte Augusta und füllte ihre Gläser mit Moselwein
     nach. «Selbst wenn er überlebt und es irgendwie geschafft hat, sich davonzuschleichen und zu verschwinden, was ich mir wirklich
     nicht denken kann. Warum sollte er Rosina jetzt noch schaden wollen? Er hatte den entsetzlichen Plan gefasst, sie töten zu
     lassen, als er begriff, dass sein Onkel seiner Tochter nicht mehr gram ist und ihr sein Erbe hinterlassen will. Dieses vermaledeite
     Erbe, auf das er fast sein halbes Leben spekuliert hatte. Als Rosinas Vater, sein Onkel, ihn und seineMutter bei sich aufnahm, muss er ja sicher gewesen sein, dass mit dem Verschwinden seiner Cousine vor so vielen Jahren kein
     anderer Erbe da sei.»
    «Wieso töten
lassen
? Ich denke, der gottlose Mensch hat sie selbst diesen Felsen hinuntergestürzt.»
    «Das stimmt, Monsieur Bach. Aber zuvor hat er in Altona einen nicht weniger gottlosen Menschen dafür bezahlt, Rosina zu töten.
     Der war dumm und blind genug, die Falsche in die Elbe zu stoßen und ertrinken zu lassen. Ihr müsst doch von dem Tod der Tochter
     des Lotsenältermannes Hörne gehört haben. Sie sah Rosina ein wenig ähnlich, und bei Nacht, als es geschah, gewiss noch mehr.
     Wohl wegen ihrer Haare, beide haben ungewöhnlich dicke honigblonde Locken, wie sie hier nicht häufig sind. Außerdem kam sie
     in der Nacht allein aus dem Seiteneingang, durch den gewöhnlich nur die Komödianten die Theaterscheune verlassen. Dennoch
     ist es schwer zu verstehen, denn er muss das Mädchen zumindest flüchtig gekannt haben. Nun gut, es war stockdunkel und neblig,
     und wir werden das nicht mehr klären können, er ist ja längst gehenkt. Jedenfalls muss dieser Klemens dann beschlossen haben,
     dass es sicherer und auch unauffälliger sei, selbst ans Werk zu gehen, und zwar in einer einsamen, gefährlichen Gegend.»
    «Wäre sein Plan gelungen», fuhr Helena fort, «hätte es wohl einiges Misstrauen gegeben, aber niemand hätte beweisen können,
     was tatsächlich geschehen war. Es kommt vor, dass ein Pferd scheut. Er hätte leicht behaupten können, ein Luchs oder sonst
     ein wildes Tier habe ihr Pferd erschreckt, es habe Rosina abgeworfen und sie sei in die Schlucht gestürzt.»
    «Aber warum setzte er seinen Plan nicht schon aufdem langen, gewiss recht einsamen Ritt um? Wie sollte er erklären, dass er sie überhaupt auf diesen

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