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Die ungehorsame Tochter

Die ungehorsame Tochter

Titel: Die ungehorsame Tochter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Petra Oelker
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eine naschhafte Biene auf dem Lavendel.
    Vielleicht, so überlegte er, ohne auf das Plaudern der anderen zu hören, sollte er seine Musik auf Lessings hübsche Zeilen
     doch noch ein wenig kecker machen. In Gedanken memorierte er wie schon oft in den letzten Tagen den kleinen Text:
    Als Amor in den güldenen Zeiten
    in schäferlichen Lustbarkeiten
    verliebt auf Blumenfelder lief.
    Da stach den kleinen Gott der Götter
    ein Bienchen, das auf Rosenblätter
    wo es sonst Honig holte, schlief.
    Durch diesen Stich ward Amor klüger,
    der unerschöpfliche Betrüger,
    sann einer neuen Kriegslist nach.
    Er lauschte unter Nelk und Rosen,
    ein Mädchen kam, sie liebzukosen,
    er floh als Bien heraus, und stach.
    Kecker, dachte er, unbedingt. Besonders zur zweiten Strophe. Da fühlte er sanft den Ellenbogen seiner Frau, besann sich auf
     seine Pflichten als Gast, vergaß Lessings wunderbar frivole Späße und zwang seine Aufmerksamkeit zurück in den Herrmanns’schen
     Garten. Immer noch wurde von dieser Mademoiselle Rosina geredet, und er begriff endlich, dass es sich nicht um die Heldin
     eines jener modernen Romane handelte, die seine Tochter neuerdings so gerne las, sondern um eine junge Frau aus Fleisch und
     Blut, was er gleich sehr viel anregender fand. Warum eigentlich sollte er nicht selbst die Texte zu seinen heiteren Clavierliedern
     machen, wenn sich direkt vor seiner Nase solcher Furor ereignete?
    Madame Bach, im Gegensatz zu ihrem Gatten bestens über die Vorgänge in der Stadt informiert, errötete peinlich berührt, als
     er fragte, wann man diese interessante junge Dame kennenlernen könne, wo doch während der letzten Viertelstunde nichts anderes
     diskutiert worden war, ob überhaupt und wenn ja, wann Mademoiselle Lenthe in die Stadt zurückkehren werde.
    «Nichts, verehrter Monsieur Bach», versicherte Augusta amüsiert, «würde ich Euch lieber verraten. Aber leider, wir wissen
     es nicht. Obwohl alle hoffen, dass es nicht mehr lange dauern wird.»
    «Der letzte Brief kam schon vor vier Wochen», sagteHelena, und Jean ergänzte: «Seither keine Nachricht, keine Zeile. Tatsächlich machen wir uns die größten Sorgen. Schließlich
     hat man den Leichnam dieses betrügerischen Unholds nicht gefunden, und wer weiß, womöglich hat er den Sturz überlebt, ist
     entkommen und sinnt nun fürchterlich auf Rache, weil sie seine Pläne durchkreuzt hat.»
    «Er muss den Sturz wohl überlebt haben», fand Sonnin. «In dieser Schlucht fließt ja kein reißender Strom, sondern nur ein
     Gebirgsbach. Man hätte ihn finden
müssen.
Wobei man sich kaum vorstellen kann, dass er den Sturz unverletzt überstanden hat, der Abhang war doch wohl sehr tief und
     voller kantiger Felsen. Ich finde es seltsam, dass Euer Filippo ihn nicht gesehen hat. Er ist doch von unten, vom Bachbett
     aus, den Hang hinaufgestiegen, direkt bis zu Rosina. Er hätte diesen bösartigen Monsieur Cousin doch sehen, geradezu über
     ihn stolpern müssen.»
    «Müssen», rief Jean, «müssenmüssenmüssen. Filippo hatte genug damit zu tun, sich einen Weg durch den Felsenhang zu suchen
     und auf Rosina zu achten, die über ihm auf einem schmalen Grat hing, von nichts gehalten als einem mageren Stämmchen. Der
     Kerl wird in eine Felsspalte gerutscht sein, man weiß doch, dass unter solchen Spalten im Gebirge oft ganze Höhlen verborgen
     sind. Oder der Teufel selbst hat ihn gleich in die Hölle geschleppt. Irgendwo wird er schon sein, der Kerl, oder besser, sehr
     viel besser: sein Leichnam.»
    «Womöglich», meldete sich nun Madame Bach schüchtern zu Wort, «ist des Nachts ein Wolf gekommen oder ein Bär und hat den Leichnam
     weggeschleppt. Man konnte ja erst am nächsten Morgen nach ihm suchen, wenn ich Euch richtig verstanden habe, Madame Becker.»
    Der Kantor sah konsterniert die glänzenden Augen seiner Frau. Niemals hätte er gedacht, eine so grausige Vorstellung könnte
     ihrer Phantasie entspringen und sie auch noch wohlig erschauern lassen.
    «So etwas ist sicher möglich», antwortete Helena, «wenn ich auch glaube, dass es im Harz keine Bären mehr gibt. Aber gewiss
     ist so etwas nie.»
    «Ich bitte um Vergebung», Monsieur Bach begann die Sache erbaulich zu finden, «ich muss gestehen, ich war mit meinen Gedanken
     ein wenig abseits. Wäre es dennoch möglich zu erfahren, was es mit dieser Mademoiselle auf sich hat, dass sie von Felshängen
     gerettet werden muss? Und wer, bitte, ist dieser mörderische Monsieur Cousin?»
    Im Wettkampf der

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