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Die ungehorsame Tochter

Die ungehorsame Tochter

Titel: Die ungehorsame Tochter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Petra Oelker
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klopfte es an der Haustür, und Thea fuhr erschreckt zusammen.
    «Zacharias?», fragte Matti.
    «Nein.» Theas Gesicht wurde wieder steinern wie zuvor. «Mein Bruder war heute Morgen hier, er wird es nicht wagen, noch einmal
     zu kommen. Nicht heute.»
    Wieder klopfte es, diesmal ein bisschen kräftiger, und Rosina öffnete die Tür. Davor stand Polizeimeister Proovt, und auch
     wenn er sich nicht vorgestellt hätte, würde sie ihn doch gleich an seinen kostbaren Stiefeln und dem eleganten Rock erkannt
     haben, über die die Gäste von Melzers Kaffeehaus so gerne herzogen.
    Er bat mit erlesener Höflichkeit um Entschuldigung, Madame Benning in ihrer Trauer stören zu müssen, es sei jedoch unumgänglich.
     «Leider», betonte er und verbeugte sich vor den beiden alten Frauen. «Um Euch nicht länger als nötig zu belästigen, will ich
     gleich zur Sache kommen. Ich muss wissen, mit wem Eure Nichte verkehrte, wen sie kannte. Ob jemand sie nicht mochte. Und was
     sie an diesem Abend getan hat.»
    Thea Benning nickte schweigend, den Blick fest auf ihre im Schoß gefalteten Hände gerichtet, und er fuhr fort: «Sie hat bei
     Euch gelebt, sicher wisst Ihr, wo sie an diesem Abend war. Ich meine vor allem, mit wem.»
    Proovt hasste es, persönliche Fragen zu beantworten, und so hasste er es auch, welche zu stellen. Rücksichtslose Fragen gehörten
     nun aber zu seinem Alltag, beinahe hatte er sich daran gewöhnt. Doch es war ein Unterschied, einen Wirt, der des Panschens
     oder Schmuggelnsverdächtig war, in die Zange zu nehmen oder eine alte Frau nach dem womöglich fragwürdigen Umgang ihrer gerade getöteten Nichte
     zu fragen. Es war immer noch kalt in dem kleinen Haus, auch war eines der Fenster geöffnet, doch er fühlte in seiner Brust
     eine Enge wie an einem drückend heißen Tag kurz vor einem Gewitter.
    «Gewiss möchtet Ihr allein mit Monsieur Proovt sprechen, Madame Benning», sagte Rosina. «Wir können Euch später noch einmal
     besuchen.»
    «Nein.» Der Protest klang wie ein Aufschrei. «Nein», sagte sie noch einmal, ruhiger. «Ich möchte, dass ihr bleibt. Den Polizeimeister
     wird das nicht stören. Was er wissen will, könnt ihr auch hören.»
    Proovt neigte zustimmend den Kopf, und Rosina glaubte, einen Anflug von Erleichterung in seinem Gesicht zu lesen, was gewiss
     eine Täuschung war. Wahrscheinlich erhoffte er sich nur von den beiden Besucherinnen weitere Auskünfte.
    «Nun», sagte er, sah sich suchend um, murmelte: «Wenn Ihr erlaubt», setzte sich auf einen schmalen Stuhl neben dem Wandschrank
     und stellte seine ersten Fragen: «Wie lange wohnte Mademoiselle Hörne in Eurem Haus, Madame? Und warum?»
    «Seit Advent. Ich war den ganzen Winter über nicht sehr wohl, weil ich alleine lebe, hat mein Bruder seine älteste Tochter
     geschickt, mir beizustehen. Daran ist nichts Besonderes, das ist in allen Familien Brauch. Anna», sie schluckte, und der Polizeimeister
     bemühte sich, aus dem Fenster zu sehen, bis ihre Lippen aufhörten zu zittern. «Anna war eine gute Tochter», fuhr sie endlich
     fort, «und eine gute Nichte. Jeder mochte sie. Jeder. Niemand kann etwas anderes sagen, es sei denn, er lügt.»
    «Das wird niemand tun, Thea.» Matti legte ihre warme Hand auf die der Freundin und wandte sich Proovt zu: «Lasst uns offen
     reden, Polizeimeister. Bei einem solchen Unglück reden die Leute gerne Schlechtes. Ihr lebt noch nicht lange hier und kennt
     uns nicht. Zacharias Hörne, Annas Vater, ist ein geachteter Mann. Er ist streng und pedantisch – doch, Thea, das ist er. Lass
     es uns besser jetzt aussprechen, bevor Monsieur Proovt böse Reden hört. Er ist pedantisch, und er hat nicht nur Freunde, besonders
     seit die Lotsen miteinander streiten. Aber Anna hatte keine Feinde. Niemand, den wir kennen, kann das getan haben.»
    Proovt unterdrückte ein Seufzen. Niemals stand jemand jemandem nahe, dem Böses zuzutrauen war.
    «Ich danke Euch für Eure Offenheit, ich will auch offen sein. Ich habe gehört, dass er nicht nur mit den hannöverschen Lotsen,
     sondern auch mit seiner Tochter zerstritten war. Wenn das in dieser Sache von Belang ist, werde ich es herausfinden. Zunächst
     aber, Madame Benning, möchte ich wissen, was Eure Nichte nach Sonnenuntergang alleine in der Stadt gemacht hat. Ging sie oft
     alleine aus?»
    «Sie ging
niemals
alleine aus. Was glaubt Ihr, wer wir sind?» Theas Stimme hatte ein wenig ihrer alten Festigkeit zurückgewonnen. «Auch an jenem
     Abend nicht. Sie war

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