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Die ungehorsame Tochter

Die ungehorsame Tochter

Titel: Die ungehorsame Tochter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Petra Oelker
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gewusst, dass Anna Hörne ermordet worden war? Unwahrscheinlich,
     dass sie nur dem Klatsch vertrauten. Oder nahmen sie es nur an, weil das Mädchen große Angst vor dem Fluss gehabt hatte und,
     wie Madame Benning ihm noch beteuert hatte, niemals freiwillig zu nahe an die Vorsetzen getreten wäre? Vor allem: Woher hatte
     die Komödiantin mit der geübten Handschrift überhaupt gewusst, wer das Mädchen gewesen war, das mitten in der Nacht in die
     Theaterscheune zurückgekehrt war, um ihr Schultertuch zu suchen?
    Der Nachhall der Niedergeschlagenheit, die er seit seinem Besuch in dem Trauerhaus fühlte, schwand. Er stieß mit der Stiefelspitze
     ein mürbes Holzstück ins Wasser, kümmerte sich nicht im mindesten um die härtende Schlammkruste auf dem braunen Leder, sondern
     ging eilig die Große Elbstraße zurück bis zum van-der-Smissen-Weg und stieg dann den Hügel hinauf zur Palmaille.
     
    «Sie erinnert mich an dich. Nein, nicht die eitle Colombine auf dem Deckel. Diese hier.» Claes Herrmanns drehte das nur daumendicke,
     etwa fünf Zoll lange Porzellandöschen und fuhr mit der Fingerspitze über die schlanke Mädchenfigur auf der unteren Hälfte.
     «Ihre leichte Bewegung, die Blumen in ihrer Hand. Und besonders diese schöne Linie», seine Hand verließ das kalte Porzellan
     und strich über den Nacken seiner Frau, «die ganz besonders.»
    Anne Herrmanns betrachtete die mit zierlichen Strichen auf das weiße Porzellan der Nadeldose gemalteMädchenfigur, die feinen Gräser, roten und blauen Blüten und sah lächelnd auf. «Sie ist wunderschön, Claes, ich danke dir.
     Das ist ein sehr kostbares Geschenk für einen ganz normalen Donnerstag. Bist du mein Gejammer leid, weil ich ständig meine
     Nähnadeln nicht finden kann?»
    Claes lachte. Beide wussten, dass Anne nur äußerst selten nach Nadeln suchte, weil sie deren Gebrauch noch weniger liebte
     als die Verwaltung von Tafelsilber und Hauswäsche. «Die Dose ist nicht wählerisch, sie nimmt auch Haarnadeln auf. Oder Blumensamen.
     Was immer klein genug ist und dir beliebt. Soll ich sie jetzt vor deinen Händen in Sicherheit bringen?»
    An Anne Herrmanns’ Händen gab es normalerweise nichts auszusetzen, heute allerdings entsprachen sie kaum denen einer Dame
     aus einem der ersten Häuser der Stadt. Sie waren voller nasser Erde, und die Fingernägel krönten schwarze Halbmonde.
    Als der Himmel am späten Vormittag ein immer strahlenderes Blau zeigte und die Sonne ihre Wärme durch die Fensterscheiben
     in ihren Salon schickte, hatte sie es nicht mehr ausgehalten. Seit Tagen wartete sie auf den Frühling, um endlich der winterlichen
     Enge und Dunkelheit des Stadthauses entkommen zu können. Schon die Kutschfahrt durch die Stadt und das Dammtor hinaus zu ihrem
     Garten an der äußeren Alster war ihr wie ein Fest erschienen. Die ersten Sonnenstrahlen tauchten alles, was gestern noch grau
     gewesen war, in lichte Farben. Die kahlen Äste der Bäume beharrten noch auf ihrem matten Braun, doch die Trauerweiden am Alsterufer
     schimmerten schon grünlich, am Wegrand streckte der Huflattich, wie stets der mutigste unter den Wiesenblumendes Frühlings, seine kreisrunden Blüten aus dem Gras, und das Wasser des Sees schimmerte in tiefem Blau.
    Elsbeth würde ihre Waschwoche verschieben müssen. Nichts war Anne an diesem Morgen dringlicher erschienen, als auch das Gartenhaus,
     tatsächlich eine kleine Villa aus rotem Backstein und Fachwerk mit einem Türmchen in der Mitte des Daches, aus dem Winterschlaf
     zu erwecken. Sie war aus der Kutsche gesprungen, hatte ihre Beete inspiziert, die Spitzen der Tulpen und Narzissen, voller
     Entzücken die wippenden Tropfenblüten der Schneeglöckchen bewundert und sofort begonnen, die Beete von vermodertem Laub, kleinen
     Zweigen und abgestorbenem Unkraut zu befreien. Der Rock ihres Kleides aus himmelblauem, zartweiß gestreiftem Kattun sah nicht
     viel besser aus als ihre Hände. Immerhin hatte sie daran gedacht, ihre Schuhe aus nachtblauem Atlas gegen die Holzpantinen
     zu tauschen, die Elsbeth für nasse Tage und ihre Wege zu den hinteren Gemüsebeeten und zu den Glashäusern in der Küche verwahrte.
    «Komm», sagte sie, nachdem Claes sein Geschenk in der Rocktasche versenkt hatte, «lass dir den Frühling zeigen. Der Hahnenfuß
     am Ufer hat schon gelbe Knospen, und auf dem Rondell beim Springbrunnen blühen die Schneeglöckchen. Die Tulpen und Narzissen   …»
    «Madame?» Kampe kam, seine Mütze in den Händen

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