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Die ungehorsame Tochter

Die ungehorsame Tochter

Titel: Die ungehorsame Tochter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Petra Oelker
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dunstige Licht.
    «Genau. Du warst ganz rührselig, als du zurückgekommen bist. Du musst kräftig gekotzt haben, du hast nämlich ausgesehen wie
     nach drei Wochen auf der Bleiche. Und du hast irgendwas gesagt wie: ‹Jetzt ist es vorbei.› Ja, jetzt weiß ich es wieder. Und
     ich hab gesagt: ‹Endlich wirst du vernünftig.› Oder so ähnlich. Es tut mir ja auch leid, dass sie nun tot ist, aber wenn es
     stimmt, was geredet wird, nämlich dass das gar kein Unfall war, sonderndass sie einer ins Wasser gestoßen hat – Berno, pass doch auf!!»
    Er griff zu spät nach dem Arm seines Freundes. Der rutschte, als habe ihm plötzlich jemand alle Knochen aus dem Leib gezogen,
     von den Stämmen ins feuchte Gras. Schweißperlen glänzten auf seiner Oberlippe, sein Atem ging schnell und flach, und er schloss
     die Augen. Er zog etwas aus der Tasche und hielt es Luther entgegen.
    «Was ist das?» Luther griff nach dem blanken Silberschmuck, der an einer Kette von Bernos Hand baumelte, und drehte ihn neugierig
     in den Fingern. Der Schmuck war etwa einen Zoll hoch und anderthalb Zoll breit, ein filigranes bäuerliches Kunstwerk von Ranken,
     in dessen Mitte zwei schnäbelnde Tauben auf einem Herz hockten. «Wo hast du das denn her?»
    «Das weiß ich nicht.» Er öffnete die Augen und lehnte müde den Kopf gegen das Holz. «Ich weiß es wirklich nicht. Aber ich
     weiß, wem es gehört. Dreh es um.»
    Der Schmuck, fein gearbeitet, doch für einen Kettenanhänger von beachtlicher Größe, wirkte in Luthers Händen klein und zerbrechlich.
     Er musste ihn ins Licht halten, um die zierlichen Buchstaben auf der Rückseite zu erkennen.
    «Verstehst du jetzt, warum ich unbedingt wissen muss, wo ich war? A und H.   Der Schmuck gehört Anna. Sie war sehr stolz darauf und hat ihn immer um den Hals getragen.»
    Luthers Finger glitten tastend die silberne Kette entlang. Sie war nicht an ihrem Verschluss geöffnet, sondern an einem der
     letzten Glieder davor gerissen. Er pfiff leise durch die Zähne.
    «Du musst sie wegwerfen», sagte er. Seine Stimmeklang in Bernos Ohren wie ein Zischen. «Sofort. Wirf sie in die Elbe, die nimmt sie mit weg. Und wenn sie in einem Fischernetz
     hängen bleibt oder an den Strand gespült wird, denken alle, sie hat sie im Wasser verloren.»
    Sein Blick flog rasch die Straße entlang und über die Wiese. Bei den Armenhäusern hängten zwei Frauen Wäsche auf, ein paar
     Jungen spielten irgendein nicht erkennbares Spiel. Auf der Königstraße rumpelten ein Bauer mit einer Torffuhre und eine zweispännige
     geschlossene Kutsche, am Schlag ein vergoldetes Wappen, vorbei. Niemand beachtete sie.
    «Wirf es weg», wiederholte er. «Und hör auf zu grübeln. Denk einfach nicht mehr dran.»
    «Das kann ich nicht. Jetzt, wo ich weiß, dass ich eine ganze Weile draußen war, erst recht nicht. Was soll ich tun, Luther?
     Ich habe sie getötet. Ich muss es gewesen sein. Woher sollte ich sonst die Kette haben?»
    «Vielleicht hat sie sie dir gegeben. Vielleicht   …»
    «Du weißt, dass sie das nie getan hätte. Wozu? Sie war freundlich zu mir, weil der Bruder meines Vaters Lotse ist. Aber eigentlich
     hat sie mich gar nicht gesehen. Ich muss zu Proovt gehen, Luther. Ich muss sagen, was ich getan habe.»
    «Bist du verrückt? Zum Polizeimeister! Du hältst den Mund. Du weißt ja gar nicht, was du getan hast. Es stimmt, du warst lange
     genug draußen, ist ja nicht weit bis zu den Vorsetzen, wo sie denken, dass sie reingefallen ist. Nicht mehr als ein paar Schritte.
     Aber für was man nicht weiß, kann man auch keine Schuld haben.» Luther zog die Unterlippe zwischen die Zähne, betrachtete
     noch einmal den Schmuck und schüttelte langsam den Kopf. «Vielleicht», sagte er schließlich, «ist es doch nicht sogut, sie wegzuwerfen. Besser, du versteckst das Ding irgendwo, wo es keiner findet. Aber vergiss die Polizei.»
    Er sah Berno streng an, der Junge, einen halben Kopf größer als er und von deutlich schwererer Statur, erschien neben ihm
     wie ein Kind. «Am besten, du überlässt das hier mir.» Er hielt die um Kette und Anhänger geballte Faust hoch. «Sonst machst
     du nur Blödsinn.» Er schob die Faust in die Tasche seiner Joppe und rutschte von den Brettern. «Die warten nur drauf, dass
     einer so blöde ist. Willst du etwa, dass deine Mutter dich hängen sieht? Willst du ihr das antun? Vergiss einfach alles. Jeder
     würde das tun.»
    Berno wollte protestieren, aber als er den Mund öffnete, hörte er

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