Die ungehorsame Tochter
seinen Namen rufen. Vor der Tür der Korbflechterei an der
Ecke zum Pötgergang stand die Frau seines ältesten Bruders und sah sich suchend um. «Berno!», rief sie wieder, entdeckte die
beiden jungen Männer und kam eilig näher. «Was machst du hier? Die Körbe müssten längst bei Madame Solange sein. Wegen deiner
Trödelei wird sie die nächsten noch woanders bestellen.»
Berno hoffte, sie werde nun wieder gehen, aber sie warf Luther einen harten Blick zu, verschränkte die Arme vor der Brust
und wartete mit sichtlicher Ungeduld, bis Berno sich erhob und ihr vorausging.
Luther strich mit der flachen Hand über die Tasche seiner Joppe und zwinkerte ihm wie zum Abschied zu. Als Berno sich an der
Tür zur Werkstatt noch einmal umdrehte, war Luther schon verschwunden.
KAPITEL 5
SONNABEND, DEN 11. MARTIUS,
NACHMITTAGS
«Es ist sehr freundlich, dass du mich begleitest, Rosina. Der Korb wird mir nun doch zu schwer.» Mattis rundes Gesicht verzog
sich lächelnd in tausend kleine Falten. «Manchmal», seufzte sie, «ist das Alter doch eine rechte Plage.»
«Ja, Matti», Rosina hob spöttisch den Korb hoch, der nichts als drei federleichte Leinensäckchen mit Kräutern barg, «dein
Alter bereitet dir grässliche Beschwerden. Ich frage mich nur, wie es dir trotz deiner Schwäche gelingt, immer noch all diese
Geburten durchzustehen.»
«Du bist schrecklich, Kind.» Matti, klein, rundlich, eisgraues Haar unter einer festen Haube vom gleichen Grau wie ihr schlichtes
Kleid aus feiner Wolle, lachte leise. «Immer musst du alles beim Namen nennen. Wenn du es so genau wissen willst, auch bei
den Geburten bin ich nicht mehr allein. Ich habe mir in den letzten Jahren angewöhnt, stets eine meiner jungen Schülerinnen
mitzunehmen.»
Matti war seit beinahe vierzig Jahren Hebamme. Anders als die meisten Frauen ihres Standes war sie begeistert gewesen, als
Dr. Struensee, der letzte Stadtphysikus von Altona, beim äußerst widerwilligen Magistrat die Einrichtung einer Hebammenschule
durchsetzte. Die Wehmütter galten nicht als geachteter Stand. Viele vonihnen dachten mehr an ihr Branntweinfläschchen als an die Pein der Gebärenden und empfanden, wie auch die meisten Ärzte, Wasser,
Seife und frische Tücher als überflüssige oder gar schädliche Last. Dass in Struensees Gebärhaus weniger Kinder starben und
auch weniger Mütter am Kindbettfieber, änderte daran wenig. Für Matti war der neue junge Physikus ein Blick in eine bessere
Zukunft gewesen, dass sein Nachfolger genauso dachte und handelte, stärkte ihre Zuversicht.
«Natürlich kann ich dieses kleine Körbchen selber tragen. Doch Kräuter allein sind nicht genug Hilfe für eine gequälte Seele.
Thea Benning braucht mehr, unser Besuch wird ihr guttun. Sie lebt hier draußen viel zu einsam. Besonders jetzt.»
Mit den Geräuschen der Stadt und des Hafens blieb am Ende der Großen Elbstraße auch die Enge zurück. Der Weg nach Neumühlen,
nur von vereinzelten Häusern mit schmalen Gärten gesäumt und gerade breit genug für ein Fuhrwerk, lag nahezu verlassen vor
ihnen. Ein Wagen fuhr nach der Pulvermühle, und drei Jungen, jeder einen Kescher geschultert, rannten mit einem humpelnden
Hund zwischen den Kopfweiden zum Fluss hinunter. Sonst war niemand zu sehen. Oberhalb des Steilufers verbargen sich noch einige
Häuser in herrschaftlichen Gärten. Das aufgeregte Gezwitscher aus vielen kleinen Kehlen zeigte, dass dort schon fleißig Nester
gebaut wurden.
«Wir sind da.» Matti blieb stehen und zeigte auf das einstöckige, reetgedeckte weiße Haus, das nur noch fünfzig Schritte entfernt
nahe am Steilufer stand, als ducke es sich in dessen Schutz.
«Glaubst du wirklich, sie braucht auch meinen Besuch?Wird es nicht eher schmerzvoll für sie sein, mich zu sehen?»
«Vielleicht. Anna war einige Jahre jünger als du, wohl auch kleiner, aber genauso blond und schlank. Viele junge Frauen sehen
hier so aus, damit wird sie nun leben müssen.» Matti atmete tief, und alle Gelassenheit schwand aus ihrem Gesicht. «Es ist
so furchtbar. Ich kannte Anna nicht sehr gut, sie lebte erst seit einigen Monaten bei ihrer Tante. Aber Thea kenne ich seit
vielen Jahren, schon lange bevor ich half, ihre Kinder zur Welt zu bringen.»
«Ich dachte, sie lebt allein. Warum sorgen ihre Kinder nicht für sie?»
«Ihr erster Sohn ist schon als Kind gestorben, die beiden anderen leben in Surinam. Der ältere hat dort die einzige Tochter
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