Die ungehorsame Tochter
eines wohlhabenden Indigobauern geheiratet, der jüngere ist ihm gefolgt. Surinam gehört den Holländern, trotzdem leben an
seiner Küste viele Deutsche. Manche sagen, sogar mehr als Holländer. Das Reichwerden ist dort wohl einfacher als hier.»
«Surinam», sagte Rosina und erinnerte sich an ein kostbares Buch, dessen Bilder sie vor vielen Jahren immer wieder angesehen
hatte. «Es muss dort wundervolle Schmetterlinge geben, in den leuchtendsten Farben und größer als eine Hand. Unendliche Wälder
und Flüsse, gegen die die Elbe als ein magerer Bach erscheint. Wenn Madame Benning hier allein zurückgeblieben ist, warum
folgt sie ihren Söhnen nicht?»
«Es ist eine sehr weite Reise. Ans Ende der Welt. Tatsächlich hat sie davon gesprochen, und Anna sollte mit ihr reisen. Das
hat Zacharias Hörne natürlich nicht erlaubt. Doch nun lass uns weitergehen. Thea wird schonauf uns warten, sie weiß, dass ich dich mitbringe. Sie hat mich darum gebeten.»
«Warum? Sie kennt mich nicht.»
«Aber sie hat von dir gehört. Dieser neue Polizeimeister ist ein hübscher Mann mit stets glänzenden Stiefeln. Es ist allerdings
nicht sicher, ob man auch sein Denkvermögen als glänzend bezeichnen kann. Irgendjemand hat Anna getötet, Rosina, und es darf
nicht sein, dass er davonkommt. Wir möchten, dass du dich ein bisschen umhörst und darauf achtest, was die Leute reden. Ja,
ich weiß.» Sie hob abwehrend die Hände und wischte Rosinas noch unausgesprochenen Einwand fort. «Geschwätz und Klatsch ist
nicht zu trauen. Doch zwischen all diesem Geschwätz findet sich immer auch Wahrheit. Wie die Vergangenheit gezeigt hat, verstehst
du dich darauf, die herauszufinden. Und das äußerst bereitwillig. Auch als ich dich vorhin mit Titus vor Melzers Kaffeehaus
traf, meine Liebe, warst du gleich bereit, mich bei diesem doch so traurigen Besuch zu begleiten. Obwohl Titus sehr betonte,
ihr habet schon einen langen Weg hinter euch. Und nun komm endlich.»
Rosina hatte erwartet, der Besuch gelte nur dem Zuhören des untröstlichen Jammers einer alten Frau, den geduldigen Versuchen,
ihr auszureden, dass auch sie am Tod ihrer Nichte schuldig sei. Doch obwohl Thea Benning ihren Schmerz nicht verleugnete,
wollte sie ihn nicht teilen. Selbst Mattis Umarmung gestattete sie nur für einen Augenblick. Nichts als das niedergebrannte,
schon seit geraumer Zeit erkaltete Feuer, die offensichtlich seit Tagen nicht geordnete Frisur über dem grauen steinernen
Gesicht mit den geröteten Augen verrieten ihr Leid. Während Rosina die Asche entfernte, Reisig undTorf aufschichtete und das Feuer entzündete, saßen die beiden alten Frauen einander gegenüber und schwiegen. Es war ein Schweigen
der Vertrautheit, tröstlicher als viele Worte. Als das Feuer auch in der Kochstelle der kleinen Küche brannte, stand Matti
auf, nahm das mit getrocknetem Johanniskraut gefüllte Leinensäckchen aus ihrem Korb und legte es auf den Tisch.
«Komm», sagte sie zu Rosina, die mit einem Topf voll frischem Wasser aus dem Bach hinter dem Haus hereinkam, «es muss richtig
kochen, das braucht seine Zeit. Nimm einen Schemel und setz dich zu uns.»
Wenn Thea sich an Annas Tod schuldig fühlte, daran zweifelte gerade Rosina nicht, so sprach sie in Gegenwart einer Fremden
nicht darüber. Anna, sagte sie gleich, sei nicht allein, sondern in Begleitung von Freunden gewesen, guten, zuverlässigen
Freunden. Soviel sie sich den Kopf darüber zerbreche, sie verstehe nicht, wieso sie an den Vorsetzen gewesen sei.
«Jemand muss sie gezwungen haben. Selbst bei Tag wäre sie nicht nahe genug an die Vorsetzen getreten, um … Niemals hätte sie das getan.»
«Vielleicht hat sie etwas gehört», unterbrach Matti sie, «eine ertrinkende Katze oder irgendetwas, das sie neugierig gemacht
hat. Vielleicht dachte sie, jemand brauche ihre Hilfe.»
Thea schüttelte entschieden den Kopf. «Dann hätte sie um Hilfe gerufen. Niemand hat etwas gehört. Nein, jemand muss sie gezwungen
haben. Sie hatte viel zu viel Angst vor dem Wasser. Als Kind, sie war sechs oder sieben Jahre alt, ist sie von den Vorsetzen
in den Fluss gefallen und wäre ertrunken, wenn Matthias Paulung ihr nicht gleich nachgesprungen wäre und sie herausgezogen
hätte.Ihre Freundin sagte, sie und ihr Mann hätten sie bis vor mein Haus gebracht. Wieso ist sie nicht gleich hereingekommen? Wieso
war sie später noch am Hafen? Wieso?»
Bevor Rosina erklären konnte, was sie wusste,
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