Die ungehorsame Tochter
honigsüßem Salbeitee gewartet. Erst als die
erste Kerze entzündet werden musste, hatte Rosina bemerkt, dass es höchste Zeit war, nach Altona zurückzukehren.
Sie blieb stehen und sah sich um. Der Weg erschien ihr so lang, und wieso war die Gasse so schmal? Wieso führte sie bergauf?
Vom Schlachtertor bis zum Fischmarkt und weiter durch die Große Elbstraße bis zur Theaterscheune führte er doch beständig
bergab. Sie schloss für einen Moment die Augen und versuchte, sich den Weg, den sie seit dem Tor genommen hatte, in Erinnerung
zu rufen. Es gelang ihr nicht, sie hatte an Matti und Lies gedacht, an die tote Anna, an Matthias Paulung, dem Helena die
Billetts geschenkt und von dem sie, Rosina, dem Polizeimeister nichts erzählt hatte. Misch dich da nicht ein, hatte Titus
gesagt. Diesmal wollte sie seinem Rat, der tatsächlich mehr eine besorgte Bitte gewesen war, folgen. Die halbe Stadt musste
inzwischen wissen, mit wem Anna tatsächlich im Theater gewesen war. Der Polizeimeister würde nicht lange fragen müssen.
Es machte wenig Sinn, in der kalten Nacht zu stehen und zu grübeln. Sie musste zurückgehen, dann würde sie schnell auf eine
vertraute Straßenecke treffen. Weit konnte es nicht sein, die Uhrglocke von St. Trinitates hatte nicht einmal geschlagen, seit sie das Tor passiert hatte. Gewiss war sie nur einmal zu früh oder zu spät
abgebogen. Bei Tag würde sie den richtigen Weg leicht finden, doch die Nacht verwandelte die Stadt in einen Irrgarten, der
Westen vorgaukelte, wo Osten war, Süden nicht von Norden unterscheiden ließ. Der Himmel war nun wieder völlig von Wolken bedeckt,
wo nicht ein erleuchtetes Fenster die Richtung wies, war nur Undurchdringlichkeit. Aus einer der Gassen oder Gänge kamen Schritte
näher, Männerstiefel, dachte sie, und sie drehte sich hastig um. Wieder bog sie in eine Gasse, doch es war nur ein Gang, der
in einen engen Hof mündete. Sie drückte sich gegen einen Schuppen und lauschte. Hühner gackerten leise im Halbschlaf, irgendwo
sang eine zittrige alte Stimme einen Abendchoral, eine Tür klappte. Die Schritte waren nicht mehr zu hören. Sie sah zum Himmel
auf und versuchte zu erkennen, wo die Elbe sein könnte. Über dem Fluss nach Westen zu musste es noch ein wenig heller sein
als nach Osten. Aber die Dunkelheit gab keine Schattierungen. Es war drei Tage nach Neumond, die Nacht war schwarz. Sonst
nichts.
Es war ganz einfach. Sie musste nur stets die Gasse gehen, die bergab führte, so gelangte sie unausweichlich zum Fluss und
damit zur Großen Elbstraße. Leise lief sie zurück und wandte sich bergab. Sie war erst wenige Schritte gegangen, da hörte
sie es wieder. Irgendjemand, der sich bemühte, leise zu gehen. Jemand der ihr folgte? Bestimmt nicht. Warum sollte das jemand
tun? Da gingeinfach noch einer die Straße zum Fluss hinab. Weil er dort wohnte, einen Besuch machen oder einfach die Nacht genießen wollte.
Jemand – da rannte sie schon, sprang in langen Schritten über Pfützen, stolperte über irgendetwas, einen Lumpen oder einen
leeren Sack, und hastete weiter. Immer noch glaubte sie Schritte hinter sich zu hören, rannte weiter, bog um eine Ecke, um
die nächste – und sah endlich das schwarzglänzende Wasser des Flusses zwischen den hohen Häusern am Fischmarkt. Sie rannte,
bis der süßliche Geruch der Brauerei, vermischt mit dem herben von Melzers Kaffeehaus, ihr entgegenschlug. Schweiß rann ihren
Rücken hinab, schwer atmend riss sie die Tür auf, und da hörte sie eine amüsierte Stimme hinter sich: «Ich bin beeindruckt,
Mademoiselle. Mit Euren Talenten hättet Ihr bei den Spielen in Olympia den Kranz vom heiligen Ölbaum beim Zeustempel errungen.»
Eine schlanke Männergestalt neigte hinter ihr grüßend den Kopf und rang nicht im mindesten nach Atem. «Trotz Rogges luxuriöser
Laterne ist es außerordentlich finster», die Stimme klang, als habe er sich gerade fürstlich amüsiert, «doch wenn mich die
Schatten nicht trügen, seht Ihr aus, als sei Euch ein Gespenst begegnet.»
Rosina rang immer noch nach Atem. «Gregor», stieß sie hervor, «Ihr seid es nur?» Sie wusste nicht, ob ihr Herz vom schnellen
Lauf so raste, vom Glück über das erlösende vertraute Gesicht oder einfach vor Zorn. «Warum habt Ihr nicht meinen Namen gerufen?
Ihr müsst mich doch erkannt haben. Hätte ich gewusst, dass Ihr das Gespenst seid, hätte ich mich gewiss nicht um olympische
Ehren bemüht. Ihr
Weitere Kostenlose Bücher