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Die ungehorsame Tochter

Die ungehorsame Tochter

Titel: Die ungehorsame Tochter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Petra Oelker
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Gedanken gemacht», fuhr sie entschieden fort. «Aber natürlich, ich mache mir zu viele
     Gedanken. Sophie hat Martin und die Sonne Portugals, bestimmt geht es ihr prächtig. Mit einem der ersten Schiffe aus Lissabon
     wird wieder ein Brief von ihr kommen, und du kannst mich auslachen.»
    «Der letzte Brief kam im Februar? Seit Januar ist kein Schiff eingelaufen.»
    «Irgendjemand muss ihn von Lissabon nach Amsterdam mitgenommen haben. Von dort kam er nämlich, mit der Landpost. Er war lange
     unterwegs, fast so lange wie meine Bäume. Sie hat ihn gleich nach Weihnachten geschrieben, ich werde ihn dir zeigen, sobald
     wir zu Hause sind.»
    Im November, dachte sie und fragte sich, warum sie ihm nicht erzählte, dass sie im November bei seinem letzten Besuch in Hamburg
     Jules Braniff gebeten hatte, Sophie zu besuchen, wenn er das nächste Mal Lissabon anlaufe. Wenn Claes Sophies Brief las, würde
     er es ohnedies erfahren. Braniff, Eigner und Befehlshaber einer englischen Brigg und auch nach dem Ende des Krieges mehr Freibeuter
     und Abenteurer als Handelskapitän, war immer noch ein brenzliges Thema. Auch wenn sie nun schon im vierten Jahr verheiratet
     waren, misstraute Claes dem Freund ihrer Jugend immer noch.
    Sie kannte Jules Braniff wie einen Bruder, und genau deshalb bereitete ihr Sorgen, was sie in diesem letztenBrief über Sophies Leben in Lissabon gelesen hatte. Da gab es plötzlich Ausfahrten und Picknicks, Bootsfahrten auf dem Tejo
     und Soireen in der englischen Gesandtschaft, plötzlich erschien Lissabon genauso, wie Sophie es sich vor ihrer Abreise vor
     fast vier Jahren ausgemalt hatte. Dummerweise kam Martin Sievers, dieser über die Maßen brave Sohn eines kleinen Zuckerbäckers,
     darin mit keinem Wort vor.
    «Ich verstehe trotzdem nicht, warum du ihn mir nicht gleich gezeigt hast», unterbrach Claes ihre Gedanken. «Glaubst du wirklich,
     meine Pflichten ließen mir keine Zeit für einen Brief meiner Tochter?»
    Dunst stieg von den Wiesen auf und legte sich vor die noch tiefstehende Märzsonne. Anne hörte auf den Klang seiner Stimme
     und fröstelte. Ein Frühlingstag war nicht genug, die Kälte des Winters zu besiegen.
     
    Wolken zogen heran und drängten die Dunkelheit vor sich her, nur über dem Horizont im Südwesten war der Himmel noch klar.
     Dort leuchtete Sirius – oder die Venus?   –, und in den ersten Altonaer Fenstern, nur noch gut hundert Schritte entfernt, schimmerten schon die Lichter der Kerzen und
     Öllampen. Leichter Westwind strich über das Hochufer, die Luft war milder als in den letzten Tagen, dennoch ließ sie fühlen,
     dass das letzte Eis im Fluss gerade erst geschmolzen war. Rosina duckte sich tiefer in Mattis warmen Umhang, schritt noch
     schneller aus und hoffte auf ein Feuer in der Stube über Melzers Kaffeehaus. Sie schien völlig allein auf der Ebene, das Vieh
     stand noch in den Ställen, und nicht einmal eine Eule auf der Mausjagd oder eine streunende Katze leistete ihr Gesellschaft.
     Der schon nachtschwarze östlicheHimmel sandte ihr die Düsternis nach wie ein Tier mit immer größer werdenden Flügeln.
    Weit hinter sich glaubte sie einen Reiter näher kommen zu sehen, aber vielleicht spielte ihr nur das schnell schwindende Licht
     einen Streich, tat sich mit dem Wind zusammen und gab einem allein stehenden Baum bei den Reeperbahnen diese Gestalt.
    Ärgerlich zog sie ihr Tuch fester zusammen und beeilte sich weiterzugehen. Wieder hatte sie sich dabei ertappt, in einem Reiter
     vermeintlich Vertrautes zu erkennen. In irgendeinem Reiter. Jedenfalls war es immer irgendeiner gewesen, niemals der, den
     sie zu sehen glaubte. Ob sie ihn auch zu sehen wünschte, wusste sie nicht mehr genau. Es war ja auch ganz unmöglich. Paul
     Tulipan würde erst im Herbst nach Hamburg zurückkehren, dann war die Becker’sche Gesellschaft längst in einer anderen Stadt.
     In diesem Herbst, fand Jean, sei es höchste Zeit, die größeren der Rheinstädte zu erobern, vielleicht sogar Frankfurt. Die
     Mainstadt, so hatte er gesagt, sei zur Messezeit beinahe so turbulent wie Leipzig. Dann konnte Paul Tulipan sie lange suchen.
     Suchen? Das würde er kaum tun.
    Im letzten Sommer, nachdem sie den Meisterschüler des Maleramts in einer außerordentlich heiklen Situation im Salon der Domina
     kennengelernt hatte, war er umgehend zum Dauergast im Parkett des Theaters am Dragonerstall geworden. Schließlich begann er,
     ihr die schönen Seiten der Stadt zu zeigen, wie er es nannte. An

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