Die ungehorsame Tochter
Knurren seines empörten Magens zu übertönen, «die Sache
würde einfacher und auch schneller vorangehen – Monsieur Rogge wird schon ungeduldig auf Euch warten –, wenn Ihr mir zuerst mitteiltet, was Ihr mit ‹diese Dinge› meint.»
«Ich meine Mord, Monsieur», sagte sie und begann nun endlich von Anfang an zu erzählen.
Ihre Schlafkammer, berichtete sie, befinde sich im zweiten Stockwerk des Hauses ihres Vaters. Aus dem Fenster sehe sie direkt
auf die Große Elbstraße. Am Tag sei es natürlich recht laut, aber in der Nacht, wenn die Stadt schlafe, herrsche auch dort
Ruhe und Friede. Außer wenn die Theaterscheune an Komödianten, Akrobaten oder Puppenspieler vermietet sei, am übelsten sei
diese französische Tanzgesellschaft im letzten Sommer gewesen, sogar aus Hamburg und Pinneberg seien Kutschen gekommen, auch
einige Gäste mit dem Ewer aus Glückstadt. Ein unglaublicher Lärm sei das gewesen. Ihr Vater, der Kaffee- und Konfitürenhändler
Rogge, habe gesagt, das sei fürwahr betrüblich, die Leute brächten aber Geld in die Stadt, das zähle mehr als eine schlaflose
Nacht. Natürlich habe er recht, sie wolle gerne für das Wohl der Stadt wachen.
Mademoiselle Rogge hatte nichts gegen das Theater,allerdings hatte sie es niemals besucht, weil die Gesellschaft, die sich dort zusammenfand, nicht ihrem Umgang entsprach.
Besonders auf der Galerie, das Parkett zu betreten sei selbstverständlich undenkbar. Leider biete die Altonaer Scheune keine
Logen wie das Hamburger Theater beim Gänsemarkt, in denen Damen unbehelligt und diskret die Schauspielkunst genießen könnten.
Proovt nickte und legte tröstend die Hand auf seinen Bauch. «Und am letzten Dienstag war die Nacht wieder laut, Ihr seid an
das Fenster getreten und habt auf der Straße das gesehen, wovon Ihr mir berichten wollt.»
«Nein, Monsieur, es war ganz still. Ich hatte noch gelesen, Paulus’ Brief an die Galater, eine sehr erbauliche Lektüre, gewiss
ist sie Euch vertraut. ‹Denn was der Mensch sät, das wird er auch ernten.› Sehr wahr. Vor meinem Abendgebet trat ich ans Fenster,
um nach dem Nebel zu sehen. Wir warten dringlich, äußerst dringlich auf die Schiffe, was ist ein Kaffeehandel ohne Kaffee?,
und solange der Nebel … Nun, jedenfalls trat ich ans Fenster und sah hinaus. Die Theaterscheune liegt nur wenige Schritte von unserem Haus auf der
anderen Straßenseite nach Westen. Die Vorstellung war schon lange aus, ich hatte die Leute weggehen hören, als ich den Salon
im ersten Stock verließ. Es war bestimmt eine gute halbe Stunde her.»
Die Straße war verlassen, und auch wenn der Nebel nicht mehr so dicht war wie am Morgen, lag doch über allem ein weicher Dunst.
«Ich habe Anna gleich erkannt, zunächst dachte ich, das müsse ein Irrtum sein, eine Täuschung. Sie würde doch niemals in das
Theater gehen, ihr Vater würde das keinesfalls erlauben, erst recht nicht so spät am Abend herauskommen. Was hätte sie dort
nochtun sollen? Aber sie war es doch. Als sie an unserem Haus vorbeigingen, erkannte ich auch ihren Begleiter.»
«Begleiter? Sie war also nicht allein?» Endlich vergaß Proovt seinen Hunger.
«Nein, es war jemand bei ihr, wenn auch nicht
direkt
neben ihr. Sie gingen in Richtung von Madame Bennings Haus.»
Wieder gewitterte das Spiel der Gefühle über Mademoiselle Rogges Gesicht, diesmal endete es in einem unsicheren Lächeln. «Ach,
Polizeimeister, ich hätte doch nicht kommen sollen. Wenn ich mich nun irre? Wenn die Schatten der Nacht und der Nebel mir
etwas vorgegaukelt haben?»
«Wenn Ihr nicht sicher seid, Mademoiselle, solltet Ihr tatsächlich noch einmal überlegen, was Ihr sagen möchtet. Obwohl ich
Euch für Hinweise äußerst dankbar wäre, will ich nicht zu etwas drängen, was Euch belasten könnte. Wie Ihr selbst sagtet:
Was der Mensch sät, wird er auch ernten.»
«Ihr seid so rücksichtsvoll. Nein, ich werde es tragen. Es ist meine Pflicht – und die Eure, meine Worte richtig zu bewerten.»
Es hatte wieder einmal funktioniert. Nichts brachte mehr Geheimnisse ans Licht als die Versicherung, man wolle keine hören.
Proovt nickte und lehnte sich mit ernstem Gesicht zurück.
«Es ist so verwirrend, Monsieur, in einer Minute bin ich ganz sicher, in der nächsten wieder nicht. Anna habe ich genau erkannt,
obwohl sie ihr Haar anders trug als sonst. Es hatte sich wohl etwas aus den Kämmen gelöst. Umso besser war sie zu erkennen.
Sie hatte
Weitere Kostenlose Bücher