Die ungehorsame Tochter
besonders schnell, damit er nicht dem Bürgermeister
über den Weg lief und Fragen hörte, auf die er noch keine Antworten zu geben wusste, und dann auf kürzestem Weg in den Alten
Ratskeller. Hätte es sich mit der Würde seines Amtes vertragen, wäre er gerannt, so machte er nur längere Schritte, senkte
den Kopf, um von niemandem in ein Gespräch gedrängt zu werden, und malte sich die redlich verdienten leiblichen Genüsse aus,
die ihn erwarteten.
Seine Vorfreude schenkte ihm gerade die Vision von Austernsuppe, Sardellensalat mit Oliven und geräucherter Ochsenzunge in
Mandelteig, als er das Rathaus erreichte. Mit schlagartig allerbester Laune eilte er, nuntatsächlich im Laufschritt, durch den Nebeneingang zu den Stuben der Stadtwache und der Polizei.
Dort schwand die selige Vision ebenso schlagartig. In der engen Kammer vor seiner Amtsstube hockte nicht nur sein Schreiber
über Stapeln von Aktenbündeln. Auf der Bank ihm gegenüber saß eine junge Frau, die beim Eintritt des Polizeimeisters «Endlich!»
rief und freudig aufsprang.
Weibliche Wesen waren hier selten anzutreffen, und wenn, zeichneten sie sich gewöhnlich durch strengen Geruch, Bieratem und
ganz und gar nicht reinliche Kleider aus. Diese hingegen trug ein frisch gebügeltes Gewand im Schnitt der neuesten Mode aus
schwerem rostfarbenem Kattun mit weißen und hellroten, vielleicht etwas zu roten Streublüten. Zierlicher Spitzenbesatz schmückte
die Bluse unter ihrem Mieder, und ihr glänzend rehbraunes, eng um den Kopf geflochtenes Haar zierte eine Haube aus durchscheinendem,
mit winzigen grünen Blättern besticktem Batist. Ihr Umhang war nicht von dem üblichen fest gewebten Stoff gemacht, sondern
von etwas Weichem, Weißem, das ihn an sehr junge Lämmer erinnerte. Proovt wusste den Anblick adretter junger Damen durchaus
zu schätzen, nun jedoch wäre ihm selbst Minerva persönlich gegen eine gesottene Ochsenzunge als ein graues Nichts erschienen.
Er blickte hilfesuchend seinen Schreiber an, doch der beugte sich grinsend nur tiefer über sein Pult und kratzte weiter mit
der rauen Feder.
«Seid ihm nicht gram.» Die junge Dame wies mit einer huldvollen Handbewegung hinter sich. «Er hat sich redlich bemüht, mich
auf morgen zu vertrösten. Ich habe darauf bestanden zu warten, bis Ihr zurückkommt. Woseid Ihr nur so lange gewesen?» Sie drohte ihm schelmisch mit dem Finger, und ihr Lächeln wurde schmelzend. Für einen Augenblick,
dann konnte Proovt verblüfft beobachten, wie es schlagartig den Ausdruck tiefsten Schmerzes annahm, zu feierlichem Ernst wechselte,
um endlich nur noch entschlossene Tapferkeit auszudrücken. Proovt, der sich nie für das Theater interessiert hatte, fand diese
Vorstellung grandios. Es gab keinen Zweifel, woher diese junge Dame kam. Doch er irrte sich. Wieder einmal.
«Monsieur», sagte sie, «es ist besser, wenn Ihr mich in Eure Amtsräume führt. Was ich Euch zu sagen habe, ist von großer Wichtigkeit.
Ach», ihre Hand flatterte begreifend zu ihrer Stirn, «womöglich wisst Ihr nicht, wer ich bin. Ich bin Hilda Rogge. Hilda Agneta,
um genau zu sein. Gewiss kennt Ihr meinen Vater, der sich vielmals entschuldigen lässt. Selbstverständlich hätte er mich begleitet,
wie es sich schickt. An so einen Ort! Doch seine Geschäfte lassen ihm heute nicht das kleinste Minütchen, der Kaffee- und
Konfitürenhandel ist besonders diffizil. Die Konkurrenz, der Niedergang der Preise, Ihr versteht das gewiss. Ich habe dennoch
drauf bestanden, gleich zu Euch zu eilen. Mein Vater hat dem nachgegeben, weil Pflicht eben Pflicht ist. Meine Pflicht ist
heute, Euch zu sagen, was ich weiß. Was ich in jener Nacht gesehen habe, als die arme Anna von unserer schönen Welt scheiden
musste.»
Diesmal versäumte sie es, ihre Miene tiefe Betrübnis zeigen zu lassen, und Proovt war nicht sicher, ob ihr ‹die arme Anna›
tatsächlich so bedauernswert erschien, wie sie ihn glauben machen wollte.
«Ich habe lange mit mir gerungen, Monsieur», begannsie und setzte sich auf den schon ziemlich schäbigen Sessel in Proovts Amtsstube. «Es ist nicht christlich, falsches Zeugnis
abzulegen. Doch dann dachte ich, Ihr müsstet wissen, was ich gesehen habe. Ihr werdet es deuten und verstehen können, wohingegen
ich von diesen Dingen nichts verstehe. Im Hause meines Vaters bin ich vor diesen Dingen beschützt. Diese Dinge …»
«Pardon, Mademoiselle», Proovt räusperte sich in der Hoffnung, das
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