Die ungehorsame Tochter
Frömmigkeit ging.
Er erkannte den neuen Physikus Hensler im Gespräch mit Polizeimeister Proovt und dem Konfitürenhändler Rogge. Dessen Tochter
allerdings konnte er nicht entdecken.
Der Wirt des
Bremer Schlüssels
schlug gerade mit dem üblichen grölenden Gelächter seine Hand auf Titus’ Schulter, der davon nicht ein bisschen wankte. Er
war der Einzige, der die liebste Freundschaftsbezeugung des Wirts unbeschadet überstand. Leute aus der Nachbarschaft waren
gekommen und natürlich die Klatschbasen und Nichtstuer, die stets auftauchten, wo mehr als dreizusammenstanden. Rosinas Geschichte, wie immer sie unter das Volk gekommen sein mochte, galt als die aufregendste Novität,
seit Kapitän Stedemühlen in seinem Gartenhaus nahe der Palmaille erschlagen worden war. Dass sie in Männerkleidern heimreiste,
gab dem Ganzen eine pikante Würze. Wahrscheinlich, dachte Wagner, würden die Leute schon in wenigen Wochen erzählen, unterwegs
sei ihr auch noch ein Bart gewachsen.
Er hatte Rosina auf der Bühne und bei anderen Gelegenheiten in vielen Verkleidungen erlebt. Heute sah sie genauso aus wie
das, was sie in den nächsten Tagen vorgeben würde zu sein: ein Student auf Reisen. Nur der kleine Degen, den diese jungen
Herren gewöhnlich trugen, fehlte. Sie gab einem blassen jungen Mann die Hand, auch ihn kannte Wagner nicht, und eine der Melzer’schen
Mägde raunte ihm zu, das sei der jüngste Sohn des Korbflechters Steuer, der die Mademoiselle aus der Elbe gerettet habe. Er
sei ganz bleich, womöglich raffe ihn noch das Fieber dahin, denn wer jemanden aus dem Wasser ziehe, nehme nun mal kein gutes
Ende. Seit sich Rosinas Herkunft herumgesprochen hatte, sprachen von ihr alle nur noch als von der Mademoiselle. Selbst die,
die bis dahin keinen Unterschied zwischen Komödiantinnen und Buhldirnen gesehen hatten.
Gerade drängte sich Claes Herrmanns durch die Menge, er führte seinen Fuchs zu Rosina und übergab ihr die Zügel.
«Wenn Ihr schon nicht vernünftig genug seid, mit der Postkutsche zu reisen», sagte er, «braucht Ihr für einen so langen Ritt
ein besseres Pferd. Versucht nicht, nein zu sagen, es würde nichts nützen. Ihr müsst es reiten, weil ich, weil Anne und wir
alle dann besser schlafen können.»
Rosina starrte Claes Herrmanns, starrte sein Pferd an und stotterte schließlich: «Der Fuchs? Er ist Euer Lieblingspferd. Es
wird Monate dauern, bis Ihr ihn zurückbekommt, und wenn ihm etwas geschieht …»
«Unsinn.» Claes Herrmanns, der das satte Gefühl einer großzügigen Geste sehr genoss, wischte ihre Einwände mit einer raschen
Handbewegung fort. «Ihm geschieht schon nichts, und die Hauptsache ist doch, dass Euch nichts geschieht. Vielleicht denkt
Ihr, er sei sehr groß, aber das scheint nur so. Anne war so klug, daran zu erinnern, dass Ihr nicht meine Körpermaße habt
und einen anderen Sattel braucht. Dieser», grinsend legte er die Hand auf das dunkle Leder, «wird für Euch sehr bequem sein.»
Dann wandte er sich zu dem Jungen, der seit Beginn des Tages nicht von Rosinas Seite gewichen war und auch nun nahe bei ihr
stand. «Muto kann das andere Pferd zum Mietstall zurückbringen.»
«Ich danke Euch sehr», sagte Rosina. «Tatsächlich erleichtert mich Eure Großzügigkeit. Mein Cousin hat das beste Pferd aus
dem Mietstall bekommen, ein schönes Tier, sicher auch schnell, ich fürchte nur, es ist ein wenig nervös, und ich bin inzwischen
im Kutschieren geübter als im Sattel.»
«Wir sind Euch sehr verbunden, Monsieur.» Klemens Lenthe, wie Rosina in dunklen, schlichten Reisekleidern, allerdings aus
sehr viel besserem Tuch, trat neben sie und verbeugte sich dankend. «Mit zwei guten Pferden werden wir schneller vorankommen.
Ich trage dafür Sorge, dass Ihr Eures so bald als möglich zurückbekommt. Und nun, Cousine, müsst Ihr Abschied nehmen. Wenn
wir die Furt bei niedrigem Wasser erreichen wollen, ist es höchste Zeit aufzubrechen.»
Es dauerte dann doch noch eine Weile, bis alle Umarmungen, alle Küsse und alle Tränen absolviert waren. Selbst Wagner gelang
es endlich, mit Hilfe einiger rücksichtsloser Püffe ganz zu Rosina vorzudringen. Dummerweise verirrten sich einige freche
Stäubchen in seine Augen, und sein großes blaues Tuch hatte wieder viel zu tun.
Rosina fühlte sich wie in einem dieser Träume, in denen man sich selbst als einem Fremden zusieht. Sie sah in die vertrauten
Gesichter, fühlte die Umarmungen, den
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