Die ungehorsame Tochter
Rosina, dann Helena unglücklich an. «Ich bin gerade dabei, meine Pflicht zu tun, Madame Becker. Dazu gehört
leider auch, Fragen zu stellen. Ich muss Euch fragen, Mademoiselle Rosina, ob Ihr jemanden wisst, der Euch in irgendeiner
Weise übel will.»
«Nein.» Rosina schüttelte den Kopf. «Niemanden, der zu solchen Mitteln greifen würde. Sollte es dennoch jemanden geben, ist
das nun nicht mehr von Belang. Ich reise morgen ab, niemand hat mehr Grund, sich meinetwegen zu ärgern.»
«Ihr solltet diese Sache ernster nehmen, Mademoiselle. Selbst wenn er nicht Euch meint, vielleicht meint er junge Damen mit
blondem lockigem Haar und nicht, verzeiht, nicht ganz makellosem Ruf.»
«Und was ist mit dem, der in der Fronerei sitzt?» Helena gefiel diese Unterhaltung immer weniger. «Ich denke, der hat das
Mädchen getötet.»
«Es sieht so aus, gewiss ist es noch nicht.»
«Ich bedauere, Euch nicht helfen zu können, Monsieur Proovt», sagte Rosina, «ich bin sehr müde und habe noch viel vorzubereiten.
Wenn ich morgen nicht ständig vom Pferd fallen will, sollte ich mich von meinem Bad ausruhen. Es war ja nicht nur kalt, sondern
auch sehr erschreckend.»
«Unbedingt. Ihr solltet Euch unbedingt ausruhen.» Endlich wusste Proovt, wie er seinen Plan hübsch verpacken konnte. «Mehr
als einen Tag, am besten eine Woche. Oder zwei. Mit kaltem Wasser ist nicht zu spaßen,am wenigsten im Winter, dieser März ist ja noch wie ein Winter, ich finde wirklich …»
«Ich danke Euch für Eure Fürsorge. Dieser März ist in der Tat kalt. Aber wir reiten nach Süden, Monsieur, selbst der Physikus
sieht keinen Grund, die Abreise aufzuschieben. Sofern kein Fieber auftritt, und das tut es nicht. Ich werde es einfach nicht
zulassen. Eure Sorge ist so freundlich wie überflüssig. Wenn ich Euch nun bitten darf zu gehen?»
«Gewiss, Mademoiselle, ich werde sofort gehen.» Proovt erhob sich, neigte den Kopf unter der niedrigen Decke und setzt sich
wieder. «Gewährt mir noch einen Augenblick. Selbst wenn Ihr mir zürnen werdet, ich muss Euch wenigstens fragen. Ich gestehe,
meine Fürsorge ist nicht so groß und selbstlos, wie sie scheint. Ich habe gehört, dass Ihr dem Hamburger Weddemeister verschiedene
Male bei seiner Arbeit geholfen habt. Mit bedeutendem Erfolg, sagt man, und ich zweifele keine Sekunde daran. Nun brauche
ich Eure Hilfe. Wenn Ihr noch einige wenige Tage bleiben würdet, womöglich begegnet Euch der Mann, der Euch ins Wasser gestoßen
hat, noch einmal, und dann …»
«NEIN!» Helena erhob sich wie ein Gewitter über dem erschreckten Polizeimeister. «Ihr solltet Euch schämen, Monsieur. Ihr
wollt, dass sie hierbleibt und den Nektar für Eure mörderische Biene spielt. Bis vor wenigen Minuten wäre ich glücklich gewesen,
wenn Rosina ihre Abreise verschöbe. Sehr, sehr glücklich. Jetzt nicht mehr. Jetzt werde ich alles tun, damit sie so schnell
wie möglich reisen kann. Ihr werdet jetzt sofort gehen, und Rosina wird ruhen. Sucht Euch eine andere, die Ihr als Köder missbrauchen
könnt.»
«Ich danke dir, Helena.» Rosina sah entzückt in das zornige Gesicht. Es fühlte sich wunderbar an, so vehement und aus tiefstem
Herzen verteidigt und beschützt zu werden. «Ihr seht, Monsieur, Ihr müsst Eure Arbeit alleine tun. Ich hätte Euch gerne geholfen,
aber diese Reise kann ich nicht aufschieben, nicht einmal um einen Tag. Ich darf es nicht. Außerdem habe ich Titus versprochen,
mich nicht in diese Sache einzumischen.»
Proovt wusste, wann es an der Zeit war aufzugeben. Er verabschiedete sich, wünschte eine gute Reise und stapfte missmutig
die Treppe hinunter. Er hätte brennend gerne noch gefragt, wer Titus war.
KAPITEL 9
DONNERSTAG, DEN 16. MARTIUS,
MORGENS
Als Letzter kam Wagner. Es kostete ihn Mühe, durch das Gedränge der Menschen und Pferde im Hof des Melzer’schen Kaffeehauses
bis in Rosinas Nähe vorzudringen. Nicht nur alle Mitglieder der Becker’schen Gesellschaft hatten sich zu ihrem Abschied versammelt.
Auch die Familie Herrmanns war nahezu vollzählig erschienen, dem jüngsten Sohn, Niklas, war allerdings nicht erlaubt worden,
seinen Unterricht im Johanneum zu schwänzen. Der Pastor von St. Pauli, Daniel Kummerjahn, plauderte vor dem Holzschuppen mit einer jungen Dame, die Wagner nicht kannte. Er konnte nicht verstehen,
wovon sie sprachen, ihre Blicke ließen darauf schließen, dass es nicht um Angelegenheiten der Kirche und der
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