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Die ungehorsame Tochter

Die ungehorsame Tochter

Titel: Die ungehorsame Tochter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Petra Oelker
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breitkrempige Hüte.
     Mit den vier baumlangen Holzrudern am hinteren Ende bugsierten sie das wohl fünfzig Fuß lange Floß, Gefährt und Ware zugleich,
     geschickt durch das schmale Fahrwasser. Auch einem Floß, flacher als jedes Boot, konnten die Sände zum Hindernis werden.
    Vom Gasthaus klangen Stimmen herunter, und Rosina sah sich nach ihnen um. Ein Lakai im hagebuttenroten Rock, die Kniehosen
     so makellos weiß wie seine Perücke, kam aus der Tür und balancierte ein Tablett mit vier großen dampfenden Tassen zu der Kutsche.
     Ein zweiter öffneteden Schlag, doch bevor er seiner Herrschaft die Bouillon hineinreichen konnte, sprang eine zierliche Dame heraus, ohne auch
     nur zu warten, bis der Kutscher den Fußtritt ausklappen konnte, und hob, tief die frische Luft einatmend, das Gesicht gegen
     den Himmel. Sie mochte kaum dreißig Jahre alt sein. Ein voller Mund, eine kleine, ein wenig aufwärts gebogene Nase und lebhafte
     Augen unter weizenblondem, nach der neuesten Mode hoch aufgekämmtem, mit Seidenblüten geschmücktem Haar gaben ihr eine eigenwillige
     Schönheit. Ihr geschmeidig fließender umbrafarbener Pelzumhang verhüllte sie bis zu den Knöcheln. Ohne auf die warnenden Worte
     zu achten, die ihr Begleiter ihr aus der Kutsche nachrief, sprang sie leichtfüßig wie ein Kind mit kaum gerafften Röcken über
     die Pfützen und lief zu der Terrasse am Hochufer.
    Rosina war sicher, es nie zuvor gesehen zu haben, dennoch war etwas Vertrautes in diesem Gesicht und in der Leichtigkeit der
     Bewegungen, der Kraft und Heiterkeit, die sie umgab. Plötzlich war der Duft von Maiglöckchen in der Luft, nur ein Hauch, auch
     war das jetzt, in diesem kalten März, ganz und gar unmöglich. Aber er war da und öffnete eine Tür zu den Bildern eines längst
     vergangenen Sommertages.
    Die Fenster des Musikzimmers waren damals weit geöffnet gewesen, Frühsommersonne fiel vom Garten auf die zierliche Frau auf
     der gepolsterten Bank vor dem Klavichord. Ihr Haar schimmerte wie Weizen kurz vor der Reife, eine weiße Seidenblüte rutschte
     aus der Klammer über ihrer Schläfe, glitt auf die Schulter und hinab zu Boden. Als sie sich bückte, um sie aufzuheben, fielen
     die duftigen Spitzen an ihren Ärmeln über ihre Hände undverströmten mit der Bewegung den feinen Geruch frisch erblühter Maiglöckchen.
    Sie hob ihr lachendes Gesicht und sah ihre Tochter mit spöttisch gekrauster Nase an. «Diese dummen Blumen. Ich werde nie lernen,
     sie richtig festzustecken.» Sie ließ die Blüte mit einem Achselzucken in ihren Schoß fallen und vergaß sie umgehend. «Diese
     Zeile musst du zarter singen, Emma», fuhr sie fort. «Denke bei jeder Note daran: Es geht um den Frühling und um die Liebe,
     nicht um einen fetten Braten. Lass es uns gemeinsam versuchen. So sollte es klingen.»
    Ihr Blick glitt über die Tasten und flog hinaus in die Sonne, während ihre Finger leicht die Töne anschlugen.
    Das Mädchen, Emma, stand neben ihr. Sie war zierlich und blond wie ihre Mutter, doch ihr festeres Kinn, ihre widerspenstigen,
     nur mühsam gebändigten Locken vermittelten eine Entschlossenheit, die der Älteren fehlte. Sie lauschte konzentriert deren
     Spiel und fand, dass das, was sie hörte, sich kaum von dem unterschied, was sie gerade gesungen hatte. Aber sie wusste schon
     genug um die Kunst des Gesangs und die Feinheit des Ausdrucks, um, ohne zu murren, immer wieder zu üben. Sie liebte diese
     Stunden, umso mehr, als sie in den letzten Monaten selten geworden waren. Es bedurfte stets langen Bittens, bevor ihre Mutter
     bereit war, mit ihr zu singen. Auch zeigte sie ihr nicht mehr die Schritte, die Haltungen des Körpers, die aus einem Tanz
     mehr machten als gefälliges Herumschreiten. Sie sei nun dreizehn, hatte ihre Mutter erklärt, junge Damen erlernten den Tanz
     von einem Tanzmeister. Was der sie von da an lehrte, unterschied sich von den Tänzen ihrer Mutter wie ein frommer Choral von
     den Liedern über den Frühling und dieLiebe. Sein schmerzlich verzogenes Gesicht spiegelte deutlicher als der Widerstand ihres Körpers ihre Unlust an den strengen,
     bis in die geringste Haltung der Hände und Füße festgelegten Bewegungen und ermüdend komplizierten Schrittfolgen.
    «Gib acht.» Ihre Mutter hob auffordernd die Hand, als ein leichtes Räuspern in ihrem Rücken sie zusammenfahren ließ. Sie erhob
     sich rasch, trat ungeschickt auf die herabgleitende Seidenblüte und stellte sich vor ihre Tochter, als gelte es, sie zu

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