Die ungehorsame Tochter
was geschah. Selbst wenn Rosina zurückkehrte, würde sie nicht mehr dieselbe sein. Sie würde reich sein. War man
nicht reich, wenn man einer solchen Familie entstammte und von ihr wieder aufgenommen wurde? Zumindest nicht mehr so arm wie
sie, die Tag für Tag von der Hand in den Mund lebten, Jahr für Jahr hofften, genug einzunehmen, um die spielfreien Zeiten
überstehen zu können. Die sich nicht leisten konnten, an Krankheit und Alter auch nur zu denken. Warum sollte eine so wohlversorgte
Frau überhaupt zu den Komödianten zurückkehren? Von nun an gehörte sie auf die andere Seite des Theaters: eine elegant gekleidete,
hinter einem Fächer verborgene Dame in einer der ersten Logen.
Ein vorsichtiger Sonnenstrahl drängte sich durch die Wolken und strich über Helenas Gesicht. Endlich löste sie den Blick von
der Straße und blinzelte zum Himmel. Heute mochte sie nicht einmal die Sonne, so drehte sie sich um, öffnete energisch die
Tür und stieg die Treppe hinauf. Es gab zu viel zu tun, um müßig herumzustehen. Gesine hatte es genau getroffen: Das hier
war kein Schäferspiel, sondern das Leben. Das der Komödianten bedeutete ständig Abschied von Orten und Menschen. Akteure verließen
ihre Gesellschaften, um mit anderen zu fahren, sie starben an der Schwindsucht oder am Fieber, ließen sich um einen Hungerlohn
nieder oder verschwanden einfach ins Nirgendwo. Nun war Rosina verschwunden. So war es eben, das Leben.
Bald nachdem sie Hamburg passiert und ihre Pferde durch das Steintor auf den Weg durch die Marschen gelenkt hatten, erklärte
Klemens Rosina, das Wasser werde für die Furt doch noch zu hoch sein, es sei sicherer, nachZollenspieker zu reiten. Bei dem kleinen Dorf wurden seit den frühesten Zeiten der Hanse Menschen, Pferde und Wagen über den
Strom ins Hannöversche gerudert, in jedem Herbst auch Tausende von Ochsen auf der Trift aus dem Jütländischen nach Süden.
Sie erreichten den Anleger am späten Vormittag. Der Wind, der bei Sonnenaufgang böig aufgefrischt war, hatte sich wieder gelegt,
die Elbe floss ruhig unter dem grauen Himmel. Vor dem behäbigen Fachwerkhaus, Gasthof und Zollstation in einem, warteten einige
Reiter, eine Kutsche und ein zweispänniges Fuhrwerk. Seine Ladung war, verborgen unter einer Plane von geöltem Tuch, nicht
zu erkennen.
Das Fährboot hatte gerade erst abgelegt. Der breite, flache Kahn mit einem Mast bewegte sich schwerfällig über den an dieser
Stelle nahezu zweihundert hamburgische Ruthen breiten Fluss. Auch in dem Hafen am anderen Ufer, nicht mehr als einige gedrungene
Gebäude und ein Anleger, warteten Wagen und Menschen auf die Überfahrt. Wer von Süden oder Westen, insbesondere auf der auch
Hopfenkarrenweg genannten alten Hansischen Handelsstraße No. 1 über Lüneburg nach Norden und Osten reiste, fand hier die beste
Möglichkeit, die Elbe zu überqueren. Der Weg über Harburg an der Süderelbe war um weniges kürzer, doch die Passage der Elbarme
zwischen den Inseln hindurch in die Norderelbe und zum Hamburger Hafen konnte bei schlechtem Wind (oder betrunkenem Schiffer)
anstatt der üblichen ein bis zwei mit etwas Pech vier, fünf oder gar sieben Stunden dauern.
Rosina sah der Fähre nach, die, von einer ganzen Anzahl von Männern gerudert und gestakt, ihren Weg ansandere Ufer suchte. Es würde eine Stunde dauern, ehe sie zurück war. Klemens, sonst ein unterhaltsamer Mensch, zeigte sich
wie schon den ganzen Morgen wortkarg. Auch Rosina war nicht in der Stimmung für Plaudereien, so brachte sie ihr Pferd in das
Gatter beim Zollhaus und schlenderte die wenigen Schritte zum Anleger hinunter. Trotz der großen Entfernung bis zum Meer senkte
und hob der Gezeitenstrom den Pegel hier und noch bis zwei Meilen weiter stromaufwärts. Mit der einsetzenden Ebbe gewann die
Strömung flussabwärts stark an Geschwindigkeit. Kein Elbschiffer, der nicht um die seltsamen Strömungsverhältnisse dieses
Flusses gewusst und sie für seine Fahrt genutzt hätte.
Ein Floß aus Dutzenden von böhmischen Baumstämmen, mit jungen Fichtenstämmchen und -zweigen fest und doch beweglich miteinander verbunden, schob sich von Osten um die Biegung. Mit Sand und Grassoden notdürftig bedeckt,
in seiner Mitte eine grobgezimmerte Hütte als Wohnung für die Flößer, sah es wie eine langgestreckte schwimmende Insel aus.
Rosina zählte sechs Männer, alle in schwarzen Hosen und Westen über weißen Hemden, auf den Köpfen dunkle,
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