Die ungehorsame Tochter
sah, den Atem anhaltend, zu. Alle fragten sich, warum Berno
neben der Frau hockte, eine ihre Hände knetete und rieb und schluchzte wie ein Kind.
«Nein, Monsieur», sagte Helena, «nein und nochmals nein. Sie ist beinahe ertrunken und beinahe erfroren. Ein Wunder, dass
ihr Herz vor Schreck nicht stehen geblieben ist. Jetzt braucht sie Ruhe. Was wollt Ihr überhaupt von ihr? Ist es neuerdings
ein Verbrechen, ins Wasser zu fallen? Sorgt lieber dafür, dass die Vorsetzen am Hafennicht so morsch sind und niemand mehr darüber stolpert und im Fluss landet.»
«Gewiss, Madame, die Vorsetzen.» Polizeimeister Proovt hatte nicht mit so vehementem Widerstand gerechnet. Er war daran gewöhnt,
in reichen Häusern nur durch den Seiteneingang eingelassen zu werden; überall sonst wurde vor dem Arm des Gesetzes ergeben
gedienert, selten mit Aufrichtigkeit, aber die begegnete ihm in seinem Beruf sowieso nur selten. Ein solcher zornblitzender
Zerberus jedoch hatte sich ihm noch nie in den Weg gestellt.
«Bitte, Madame», versuchte er es erneut, «ich muss mit Mademoiselle Rosina sprechen. Natürlich ist es kein Verbrechen, ins
Wasser zu fallen, darum geht es nicht. Das heißt, darum geht es schon, nur anders. Wenn Ihr versteht, was ich meine.»
«Ich verstehe kein Wort, Monsieur. Warum kommt Ihr nicht einfach morgen wieder?»
«Weil Mademoiselle Rosina morgen die Stadt verlässt, Madame. Das wisst Ihr so gut wie ich. Es ist wichtig für sie, mit mir
zu reden. Versteht Ihr: für sie, für Mademoiselle Rosina.»
Helena starrte den Polizeimeister, von dem sie zunächst angenommen hatte, er sei wieder nur einer dieser träumenden jungen
Bürger, der Jean seine poetischen Ergüsse antragen wolle, nicht mehr ganz so misstrauisch, aber immer noch prüfend an, roch
einen Hauch von Rosenwasser und seufzte ergeben.
«Ich verstehe immer noch nichts. Aber nun gut, für eine kurze Weile. Wenn sie es möchte. Wartet hier, ich werde sie fragen.»
«Ich bin schon da, Helena, und ich möchte mit demPolizeimeister sprechen.» Rosina, vom Scheitel bis zur Sohle in dicke Wolltücher gewickelt, stand in der Tür der Becker’schen
Stube. «Guten Tag, Monsieur Proovt. Wenn Euch nicht stört, dass ich vermummt bin wie für einen Winter auf Spitzbergen, nehmt
Platz. Ihr habt gewiss nichts dagegen, wenn Madame Becker uns Gesellschaft leistet.»
Es waren keine zwei Stunden vergangen, seit zwei Männer vom Hafen Rosina in die Wohnung über Melzers Kaffeehaus gebracht hatten.
Sie sei ins Wasser gefallen, sagten sie, aber nun lebe sie ja wieder. Nach dem Physikus sei schon geschickt, obwohl eine heiße
Brühe und ein warmes Bett sicher genug Medizin seien.
Dr. Hensler war der gleichen Ansieht. Eine gesunde junge Frau, die gewöhnt sei, bei jeder Witterung schwerbeladene Wagen über
die Straßen zu kutschieren, werde so ein kaltes Bad schon überstehen, am besten mit Hilfe eines heißen. Wenn Mademoiselle
morgen reisen wolle, brauche sie heute unbedingt ein heißes Bad. Während Helena Rosina mit zitternden Fingern half, ihre nassen
Kleider auszuziehen, und darüber nachgrübelte, wieso die ganze Stadt von Rosinas Reise zu wissen schien, stieg der Physikus
in die Melzer’sche Küche hinab. Mit wenigen, dafür deutlichen Worten überzeugte er die Melzerin, dass Sparsamkeit auch bei
Feuerholz unzweifelhaft eine Tugend, in diesem besonderen Fall jedoch eine schwere Sünde sei. Ohne auf das Gejammer der Wirtin
zu achten, sie brauche das heiße Wasser für ihre Wäsche, eilte er weiter, und Rosina schwitzte bald darauf im randvollen Waschzuber
der Melzerin die Kälte des Flusses aus.
«Ich bedauere, Eure Ruhe stören zu müssen, Mademoiselle. Ihr werdet es gleich verstehen.» Er warf Helenaeinen vorsichtigen Blick zu, doch die sah nur besorgt die Erschöpfung in Rosinas Gesicht. «Ich bin nicht immer so eilig zur
Stelle, wenn jemand ins Wasser gefallen ist. Das kommt häufig vor, meistens retten die Leute sich selbst, der Fluss ist hier
nicht sehr tief, zum Kummer der Schiffer, Kaufleute und des Hafeninspektors, dafür zum Glück der Verunglückten. Es sei denn,
die Flut steht hoch, besonders jetzt im Frühjahr, wenn die Schneeschmelze die Elbe füllt und höher als gewöhnlich steigen
lässt. In diesen Wochen ertrinken die meisten.»
«Ihr wolltet uns nicht lange stören», erinnerte Helena. Nie hatte sie weniger Lust als heute verspürt, die Gefahren des Flusses
erläutert zu
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