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Die Ungetroesteten

Titel: Die Ungetroesteten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kazuo Ishiguro
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mußte mich sehr konzentrieren, weil ich fürchtete, ich könnte eine Stufe verfehlen und den ganzen Weg den Hügel hinunterfallen. Doch Gott sei Dank war der Wind nicht mehr so unangenehm, und nach einer Weile wurde ich sicherer – es war kein so großer Unterschied zu anderen Treppen -, so sicher, daß ich gelegentlich den Blick hob, um das Panorama vor uns zu betrachten.
    Der Himmel war noch bedeckt, aber die Sonne schickte sich gerade an, durch die Wolken zu brechen. Die Straße, auf der das Auto wartete, war, wie ich jetzt sehen konnte, in ein Plateau gebaut worden. Jenseits der Straße fiel der Hügel unter einer großen Anzahl Baumkronen weiter ab. Ein Stück weiter unten sah ich, daß sich Felder in alle Richtungen bis in die weite Ferne erstreckten. Nur undeutlich waren die Umrisse der Stadt am Horizont zu erkennen.
    Christoff blieb unmittelbar hinter mir. Während der ersten paar Minuten, vielleicht weil er meine Nervosität beim Abstieg bemerkt hatte, sagte er kein Wort. Doch sobald ich meinen Rhythmus gefunden hatte, seufzte er und sagte:
    »Dieser Wald, Mr. Ryder. Da unten zu Ihrer Rechten. Das ist der Werdenberger Forst. Viele wohlhabende Leute in der Stadt haben sich dort ein Chalet zugelegt. Der Werdenberger Forst ist wirklich sehr reizvoll. Nur eine kurze Fahrt von der Stadt aus, und doch fühlt man sich so weit weg von allem. Wenn wir erst im Wagen sitzen und den Hang hinunterfahren, werden Sie die Chalets sehen. Einige drängen sich unmittelbar am Rand steiler Abhänge. Die Aussicht muß atemberaubend sein. Rosa hätte gern eines von diesen Chalets gehabt. Wir hatten sogar schon ein ganz bestimmtes im Sinn, ich zeige es Ihnen, wenn wir hinunterfahren. Eines der eher bescheideneren, aber trotzdem sehr reizvoll. Der jetzige Besitzer macht kaum Gebrauch davon, hält sich dort höchstens zwei oder drei Wochen im Jahr auf. Hätte ich ein gutes Angebot gemacht, dann hätte er es sich bestimmt genau überlegt. Aber es hat gar keinen Zweck mehr, jetzt an so etwas zu denken. Das ist jetzt alles vorbei.«
    Er schwieg einen Augenblick. Dann hörte ich wieder seine Stimme hinter mir:
    »Es ist gar nicht mal so prachtvoll. Rosa und ich sind nicht einmal drin gewesen. Aber wir sind so oft vorbeigefahren, daß wir uns denken können, wie es drinnen aussieht. Es steht direkt am Rand dieses kleinen Felsvorsprungs, ein richtig steiler Abhang, meine Güte, man könnte meinen, man hängt hoch in der Luft. Von jedem Fenster aus könnte man Wolken sehen, wenn man von einem Zimmer ins andere geht. Das hätte Rosa so gefallen. Wir sind immer im Wagen daran vorbeigefahren, ganz langsam, manchmal haben wir sogar gehalten, haben dagesessen und uns vorgestellt, wie es drinnen wohl aussieht, indem wir es uns Zimmer für Zimmer ausgemalt haben. Na ja, wie gesagt, das ist jetzt alles Vergangenheit. Es hat keinen Zweck mehr, überhaupt noch daran zu denken. Aber wie dem auch sei, Mr. Ryder, Sie hatten uns Ihre wertvolle Zeit ja nicht opfern wollen, um sich das alles anzuhören. Verzeihen Sie. Kommen wir zu wichtigeren Dingen zurück. Wissen Sie, wir waren alle unendlich dankbar, als Sie sich bereit erklärt hatten, zu kommen und mit uns zu reden. Was für ein bezeichnender Unterschied zu all diesen Leuten, diesen Männern, die behaupten, an der Spitze unserer Gemeinde zu stehen! Bei drei verschiedenen Gelegenheiten haben wir sie eingeladen, an einem unserer Mittagessen teilzunehmen, dazuzukommen und mit uns über die strittigen Punkte zu reden, so wie Sie das jetzt tun wollen. Aber darauf wollten sie sich nicht einlassen. In keinster Weise! Dazu waren sie zu stolz, alle miteinander. Von Winterstein, die Gräfin, von Braun, sie alle. Weil sie nämlich unsicher sind, verstehen Sie. Tief in ihrem Innern wissen sie, daß sie keine Ahnung haben, also weigern sie sich, zu kommen und sich mit uns auseinanderzusetzen. Dreimal haben wir sie eingeladen, und jedesmal nur eine barsche Weigerung. Aber es hätte ohnehin keinen Sinn gehabt. Sie hätten nicht einmal die Hälfte von dem verstanden, was wir zu sagen haben.«
    Ich schwieg immer noch. Ich hatte das Gefühl, ich müßte irgendeine Bemerkung machen, doch mir wurde klar, daß ich mich nur verständlich machen konnte, wenn ich über die Schulter zurückrief, und ich wollte das Risiko nicht eingehen, den Blick von den Stufen abzuwenden. Während der nächsten paar Minuten setzten wir unseren Abstieg also schweigend fort, und Christoffs Atem hinter mir ging immer schwerer. Dann hörte

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