Die Ungetroesteten
ich ihn sagen:
»Ich will nicht ungerecht sein, es ist wirklich nicht ihre Schuld. Die modernen Formen sind heutzutage so komplex. Kazan, Mullery, Yoshimoto. Selbst für einen geübten Musiker wie mich ist es heutzutage schwer, sehr schwer. Leute wie von Winterstein und die Gräfin haben da doch wohl kaum eine Chance, oder? Sie sind vollkommen verunsichert. Für sie ist das nur entsetzlicher Lärm, ein Durcheinander bizarrer Rhythmen. Vielleicht haben sie sich im Lauf der Jahre eingeredet, daß sie da doch etwas hören, gewisse Regungen, Bedeutungen. Aber in Wahrheit haben sie überhaupt nichts gefunden. Sie sind vollkommen verunsichert, sie werden nie begreifen, wie moderne Musik funktioniert. Früher gab es eben nur Mozart, Bach, Tschaikowski. Sogar der einfache Mann auf der Straße konnte über diese Art Musik eine ganz vernünftige Meinung äußern. Aber die modernen Formen! Wie können solche Leute, ungeübte, provinzlerische Leute, wie können sie so etwas je verstehen, selbst wenn ihr Pflichtgefühl gegenüber der Gemeinde noch so groß ist? Es ist hoffnungslos, Mr. Ryder. Sie können eine gequetschte Kadenz nicht von einem angeschlagenen Motiv unterscheiden. Genauso wenig ein gebrochenes Taktvorzeichen von einer Sequenz auseinandergezogener Pausen. Und jetzt mißverstehen sie die ganze Situation! Sie wollen, daß sich die Dinge in die entgegengesetzte Richtung entwickeln! Wenn Sie müde werden, Mr. Ryder, wollen wir dann nicht ein wenig ausruhen?«
Tatsächlich war ich einen Moment lang stehengeblieben, weil ein Vogel, der bedenklich nah an meinem Gesicht vorbeigeflogen war, mich beinahe mein Gleichgewicht hatte verlieren lassen.
»Nein, nein, mir geht es gut!« rief ich zurück und machte mich wieder an den Abstieg.
»Die Stufen sind ein bißchen zu schmutzig zum Daraufsitzen. Aber wenn Sie wollen, können wir einfach eine Weile hier so stehenbleiben.«
»Nein, danke, wirklich nicht. Mir geht es gut.«
Während der nächsten Minuten gingen wir schweigend weiter. Dann sagte Christoff:
»In meinen unvoreingenommensten Momenten tun sie mir tatsächlich leid. Ich werfe ihnen nichts vor. Auch nach allem, was sie getan haben, nach allem, was sie über mich gesagt haben, sehe ich die Situation manchmal immer noch ganz objektiv. Und ich sage mir, nein, es ist einfach nicht ihre Schuld. Es ist doch nicht ihre Schuld, daß die Musik so schwierig und kompliziert geworden ist. Es ist unvernünftig, an einem Ort wie diesem von jemandem zu erwarten, die moderne Musik zu verstehen. Und doch müssen sich diese Leute, diese Stadtoberen, den Anschein geben, als wüßten sie, was sie tun. Also wiederholen sie voreinander gewisse Dinge immer wieder, und nach einer Weile fangen sie an, sich für Autoritäten zu halten. An einem Ort wie diesem, verstehen Sie, gibt es doch niemanden, der ihnen widersprechen würde. Bitte seien Sie sehr vorsichtig jetzt auf diesen Stufen, Mr. Ryder. Sie sind an den Rändern ein wenig eingefallen.«
Die nächsten Stufen nahm ich sehr langsam. Als ich dann wieder aufschaute, sah ich, daß wir nicht mehr weit zu gehen hatten.
»Es wäre zwecklos gewesen«, hörte ich Christoffs Stimme hinter mir. »Selbst wenn sie unsere Einladung angenommen hätten, wäre es zwecklos gewesen. Von dem, worum es ging, hätten sie kaum die Hälfte verstanden. Sie, Mr. Ryder, Sie werden wenigstens unsere Argumente verstehen. Selbst wenn wir Sie nicht überzeugen können, werden Sie gewiß voller Respekt für unsere Situation wieder fortgehen. Aber natürlich hoffen wir, daß wir Sie auf unsere Seite bekommen. Sie davon überzeugen werden, daß die momentane Richtung, ungeachtet meines persönlichen Schicksals, um jeden Preis beibehalten werden muß. Ja natürlich, Sie sind ein hervorragender Musiker, einer der talentiertesten, die es zur Zeit in der Welt gibt. Und doch muß selbst ein Könner Ihres Kalibers sein Wissen einem bestimmten Muster örtlicher Gegebenheiten anpassen. Jede Gemeinde hat ihre eigene Geschichte, ihre ureigenen Bedürfnisse. Die Leute, denen ich Sie gleich vorstellen werde, Mr. Ryder, gehören zu den wenigen in dieser Stadt, die man mit Fug und Recht als Intellektuelle bezeichnen könnte. Sie haben sich der Mühe unterzogen, die besonderen hier herrschenden Gegebenheiten zu analysieren, ja mehr noch – im Gegensatz zu von Winterstein und seinesgleichen verstehen sie etwas von der Wirkungsweise moderner musikalischer Formen. Mit ihrer Hilfe, natürlich in der denkbar höflichsten und
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