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Die Ungetroesteten

Titel: Die Ungetroesteten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kazuo Ishiguro
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verständigen sich ja fast telepathisch, wenn sie so viele Jahre so glücklich zusammengelebt haben wie dieses Paar. Natürlich heißt das nicht, daß sie sich nie streiten. O nein, sie haben sich womöglich sogar recht oft gestritten, hatten vielleicht sogar im Lauf der Jahre Phasen, in denen sie sich völlig entzweit hatten. Aber wenn Sie sie kennenlernen, wenn Sie einem Paar wie diesem begegnen, dann werden Sie sehen, daß all diese Dinge sich am Ende irgendwie klären und daß sie im Grunde sehr glücklich miteinander sind. Also, der Ehemann wird aufstehen und die Schachtel von einem Platz holen, an dem sie die wichtigen Dinge aufheben, er wird sie hereinbringen; vielleicht ist sie in Seidenpapier eingewickelt. Und natürlich werden Sie sie sofort öffnen, und diese Nummer Neun wird drinnen sein, genau so, wie Sie ihn zurückgelassen haben, er wird immer noch darauf warten, wieder an seinem kleinen Sockel festgeklebt zu werden. Dann können Sie die Schachtel wieder zumachen, und die netten Leute werden Ihnen noch etwas Tee anbieten. Nach einer Weile sagen Sie dann, daß Sie jetzt gehen müßten, daß Sie sich nicht allzusehr aufdrängen wollten. Doch die Frau wird darauf bestehen, daß Sie noch etwas von dem Kuchen nehmen. Und der Mann wird Sie noch ein letztes Mal durch die Wohnung führen wollen, damit Sie seine Renovierungsarbeiten bewundern können. Dann werden sie Ihnen schließlich von der Türschwelle aus hinterherwinken und Ihnen sagen, daß Sie die beiden auf jeden Fall besuchen sollen, wenn Sie wieder einmal in der Gegend sind. Es wird sich wohl nicht haargenau so abspielen, aber bei allem, was Sie mir erzählt haben, bin ich sicher, daß es sich im großen und ganzen so zutragen wird. Sie müssen sich also gar keine Sorgen machen, ganz bestimmt nicht...«
    Die Stimme des Mannes an meinem Ohr, dazu das sachte Schaukeln des Busses, hatte eine ungeheuer entspannende Wirkung. Ich hatte die Augen bereits geschlossen, kurz nachdem der Mann angefangen hatte zu reden, und etwa in diesem Moment nickte ich, während ich tiefer in meinen Sitz sank, zufrieden ein.

    Mir wurde bewußt, daß Boris mich an der Schulter schüttelte. »Wir müssen jetzt aussteigen«, sagte er.
    Als ich vollends wach wurde, merkte ich, daß der Bus stehengeblieben war und daß wir inzwischen die einzigen Fahrgäste waren. Der Fahrer war von seinem Platz aufgestanden und wartete geduldig darauf, daß wir ausstiegen. Während wir uns durch den Gang auf den Weg nach vorn machten, sagte der Fahrer:
    »Passen Sie auf. Da draußen ist es ziemlich kalt. Meiner Meinung nach sollte man diesen See zuschütten. Der ist doch nur ein Ärgernis, und es vergeht kein Jahr, in dem nicht jemand darin ertrinkt. Gut, meistens sind es Selbstmörder, und ich nehme an, wenn es den See hier nicht gäbe, würden sie eine andere, scheußlichere Methode finden. Aber meiner Meinung nach sollte man den See zuschütten.«
    »Tja«, erwiderte ich. »Offensichtlich löst dieser See heftige Debatten aus. Ich selbst bin ja nur ein Außenstehender, also halte ich mich aus solchen Streitigkeiten lieber heraus.«
    »Das ist wirklich nicht das dümmste. Tja dann, schönen Tag noch.« Dann verabschiedete er sich noch von Boris und sagte: »Viel Spaß, junger Mann.«
    Boris und ich stiegen aus dem Bus, und während er wegfuhr, besahen wir uns die Gegend. Wir standen am äußeren Rand eines riesigen Betonbeckens. Etwas weiter weg, im Zentrum dieses Beckens, befand sich der künstliche See, und seine Nierenform ließ an eine gigantische Variante jener vulgären Swimmingpools denken, die früher die Hollywoodstars besessen haben sollen. Ich mußte einfach bewundern, wie der See seine Künstlichkeit voller Stolz offen darlegte – was übrigens für die ganze Anlage galt. Nirgendwo eine Spur von Gras. Selbst die spärlichen Bäume, die wie kleine Sprengsel entlang der Betonhänge verteilt waren, hatte man in Stahlfassungen gezwängt und so präzise in Form geschnitten, daß sie sich der Pflasterung anpaßten. Auf diese Szenerie gingen die unzähligen identischen Fenster der Hochhausblocks, die uns von allen Seiten umringten. Mir fiel auf, daß eine sanfte Kurve zum Vordereingang jedes einzelnen Blocks führte, was zu jener nahtlosen, kreisförmigen Anmutung führte, die an ein Sportstadion erinnerte. Doch trotz all der Wohnungen, die uns umgaben – ich schätzte sie auf mindestens vierhundert -, waren kaum Menschen zu sehen. Ich konnte einige Gestalten ausmachen, die energisch

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