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Die Ungetroesteten

Titel: Die Ungetroesteten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kazuo Ishiguro
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da.«
    Er führte uns noch ein letztes Mal die verächtliche Geste mit dem Finger vor, dann ging er schnell davon.
    »Manchmal kann er richtig amüsant sein«, sagte ich.
    Sophie sah über die Schulter zu, wie Boris den Gang zwischen den Tischen hochging. »Er wächst so schnell«, sagte sie. Dann seufzte sie, und ihr Gesichtsausdruck wurde noch nachdenklicher. »Bald wird er erwachsen sein. Wir haben nicht mehr viel Zeit.«
    Ich erwiderte nichts und wartete darauf, daß sie fortfuhr. Eine Weile schaute sie noch über die Schulter zurück. Dann drehte sie sich zu mir um und sagte leise: »So vergeht jetzt seine Kindheit. Bald wird er erwachsen sein, und er wird nie etwas Besseres gekannt haben.«
    »Du tust ja gerade so, als würde er eine schreckliche Zeit durchmachen. Sein Leben ist vollkommen in Ordnung.«
    »Na schön, ich weiß, so schlimm ist sein Leben gar nicht. Aber das ist jetzt seine Kindheit. Ich weiß, wie sie sein sollte. Denn weißt du, ich erinnere mich daran, wie es war. Als ich noch sehr klein war, bevor Mutter so krank wurde. Alles war so schön damals.« Sie drehte sich wieder zu mir um, doch ihre Augen schienen sich auf die Wolken hinter mir zu richten. »So etwas will ich für ihn.«
    »Ach, mach dir keine Sorgen. Wir werden das schon sehr bald alles in Ordnung bringen. Und in der Zwischenzeit geht es Boris doch gut. Kein Grund, sich Sorgen zu machen.«
    »Du bist wie alle anderen.« In ihrer Stimme schwang jetzt leichter Ärger mit. »Du tust gerade so, als hätten wir alle Zeit der Welt. Papa mag wohl noch ein paar gute Jahre vor sich haben, aber jünger wird er auch nicht. Eines Tages wird er nicht mehr da sein, und dann gibt es nur noch uns. Dich und mich und Boris. Deshalb müssen wir uns ranhalten. Wir müssen bald etwas für uns aufbauen.« Sie holte tief Luft und schüttelte den Kopf, ihr Blick fiel auf die Tasse Kaffee, die sie vor sich stehen hatte. »Du begreifst das einfach nicht. Du begreifst einfach nicht, wie einsam es auf der Welt sein kann, wenn man mit den Dingen nicht klarkommt.«
    Ich sah keinen Sinn darin, mich auf eine Auseinandersetzung einzulassen. »Tja, dann werden wir das eben tun«, sagte ich. »Dann finden wir eben bald etwas.«
    »Du begreifst einfach nicht, wie wenig Zeit wir noch haben. Sieh uns doch an. Wir haben kaum einen Anfang gemacht.«
    Der anklagende Ton in ihrer Stimme verstärkte sich. Mittlerweile schien sie vollkommen die nicht unbedeutende Rolle vergessen zu haben, die ihr eigenes Verhalten bei dem gespielt hatte, was uns daran gehindert hatte, »mit den Dingen klarzukommen«. Ganz plötzlich verspürte ich die Versuchung, sie auf einiges hinzuweisen, aber ich beschloß zu schweigen. Nach einer ziemlich langen Pause stand ich auf und sagte:
    »Entschuldige. Ich glaube, ich hole mir doch noch etwas zu essen.«
    Sophie schaute wieder in den Himmel und schien mein Fortgehen kaum zu bemerken. Ich ging nach vorn zu der Selbstbedienungstheke und nahm mir ein Tablett. Doch während ich dann die Auswahl an Gebäck betrachtete, fiel mir ein, daß ich den Weg zur Galerie Karwinsky nicht kannte und daß wir vorläufig ganz und gar von dem roten Wagen abhängig waren. Ich dachte an den roten Wagen, der jetzt in diesem Augenblick da draußen auf der Landstraße davonfuhr, weiter und immer weiter weg von uns, und mir wurde klar, daß wir es uns nicht leisten konnten, noch mehr Zeit in dieser Raststätte zu verlieren. Ich dachte im Gegenteil, daß wir unverzüglich aufbrechen sollten. Und ich wollte gerade schon das Tablett wieder wegstellen und an unseren Tisch zurückeilen, als mir bewußt wurde, daß sich zwei Leute, die ganz in der Nähe saßen, über mich unterhielten.
    Ich schaute mich um und sah, daß es sich um zwei elegant gekleidete Frauen mittleren Alters handelte. Sie beugten sich über den Tisch einander entgegen, sprachen leise miteinander und hatten, soweit ich das feststellen konnte, keine Ahnung, daß ich in diesem Augenblick so nahe bei ihnen stand. Sie erwähnten kaum je meinen Namen, und deshalb war ich mir zuerst auch nicht sicher, ob ich tatsächlich der Gegenstand ihres Gespräches war, doch bald schon mußte ich einsehen, daß von keinem anderen als mir die Rede war.
    »O doch«, sagte die eine Frau gerade. »Sie haben sich mehrfach mit dieser Stratmann in Verbindung gesetzt. Sie versichert ihnen immer wieder, daß er erscheinen wird, um alles zu inspizieren, aber bis jetzt hat er sich nicht blicken lassen. Dieter meint, daß sie das auch gar

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