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Die Ungetroesteten

Titel: Die Ungetroesteten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kazuo Ishiguro
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weiter rüber an den Rand fahre ich nicht«, sagte ich. »Wir fahren jetzt genau richtig.«
    »Vielleicht hat er Angst«, sagte Sophie leise zu mir.
    »Er hat doch keine Angst!«
    »Ich habe Angst! Wir werden noch einen ganz schlimmen Unfall haben!«
    »Sei bitte ruhig, Boris. Ich fahre ganz sicher.«
    Ich hatte das sehr streng gesagt, und Boris schwieg wieder. Doch als ich dann weiterfuhr, wurde mir bewußt, daß Sophie mich besorgt ansah. Gelegentlich schaute sie sich zu Boris um, dann kehrte ihr Blick wieder zurück zu mir. Schließlich fragte sie leise:
    »Wieso halten wir nicht irgendwo an?«
    »Anhalten? Wieso das denn?«
    »Wir kommen immer noch rechtzeitig zur Galerie. Wegen ein paar Minuten werden wir schon nicht zu spät kommen.«
    »Ich glaube, wir versuchen einfach erst, diese Galerie zu finden.«
    Während der nächsten Minuten schwieg Sophie. Dann drehte sie sich wieder zu mir um und sagte: »Ich finde, wir sollten anhalten. Wir könnten etwas trinken und eine Kleinigkeit essen. Das hilft dir bestimmt, dich wieder abzuregen.«
    »Was soll das heißen, mich abregen?«
    »Ich will anhalten!« rief Boris von hinten.
    »Was soll das heißen, mich abregen?«
    »Es ist so wichtig, daß ihr zwei heute abend nicht wieder zu streiten anfangt«, sagte Sophie. »Ich sehe, es geht schon wieder los. Aber nicht heute abend. Das lasse ich nicht zu. Wir sollten uns alle ein bißchen entspannen. Damit wir in die richtige Stimmung kommen.«
    »Was soll das heißen, die richtige Stimmung? Mit uns ist doch alles in Ordnung.«
    »Ich will anhalten! Ich habe Angst! Mir ist schlecht!«
    »Guck mal« – Sophie zeigte auf ein vorüberziehendes Schild -, »da kommt gleich eine Raststätte. Bitte laß uns da anhalten.«
    »Das ist vollkommen unnötig...«
    »Du wirst richtig wütend. Und der Abend heute ist so wichtig. Heute abend darf es nicht schiefgehen.«
    »Ich will anhalten! Ich muß aufs Klo!«
    »Gleich. Bitte laß uns anhalten. Laß uns die Sache in Ordnung bringen, bevor es noch schlimmer wird.«
    »Was sollen wir in Ordnung bringen?«
    Sophie antwortete nicht, sondern schaute weiter ängstlich durch die Windschutzscheibe. Wir fuhren jetzt durch eine gebirgige Landschaft. Die Kiefernwälder hatten wir hinter uns gelassen, und an ihrer Stelle ragten zu beiden Seiten felsige Böschungen auf. Die Raststätte war jetzt am Horizont zu sehen, eine Konstruktion, die an ein hoch in Felsen gehauenes Raumschiff erinnerte. All meine Wut auf Sophie war in diesem Augenblick mit neuer Intensität zurückgekehrt, doch trotz allem – beinahe gegen meinen Willen – fuhr ich langsamer und wechselte die Spur.
    »Ist ja gut, wir halten an«, sagte Sophie zu Boris. »Du brauchst jetzt keine Angst mehr zu haben.«
    »Er hat auch vorhin keine Angst gehabt«, sagte ich kühl, doch Sophie schien das nicht gehört zu haben.
    »Wir essen schnell etwas«, sagte sie zu dem Jungen. »Dann geht es uns allen gleich viel besser.«
    Einem Schild folgend, bog ich von der Landstraße ab auf einen steilen, engen Weg. Wir fuhren über eine Reihe von Haarnadelkurven immer höher, dann wurde die Straße eben, und wir gelangten zu einem Parkplatz. Mehrere Lastwagen sowie etwa ein Dutzend Autos standen dort Seite an Seite.
    Ich stieg aus und streckte mich. Als ich zurückschaute, sah ich, daß Sophie Boris aus dem Wagen half. Ich sah zu, wie er ein paar Schritte auf dem geteerten Platz machte und dabei reichlich schläfrig aussah. Dann drehte er, als wolle er sich wach machen, das Gesicht dem Himmel entgegen und stieß einen Tarzanschrei aus, wobei er sich tatsächlich auf die Brust schlug.
    »Laß das, Boris!« rief ich.
    »Aber hier stört er doch keinen«, sagte Sophie. »Hier hört ihn doch niemand.«
    Tatsächlich befanden wir uns hoch oben auf einer Felsspitze und standen ein ganzes Stück weit weg von der gläsernen Konstruktion der Raststätte. Der Sonnenuntergang färbte den Himmel jetzt tiefrot und spiegelte sich in allen Oberflächen des Gebäudes. Ohne ein Wort zu sagen, schlenderte ich an den beiden vorbei und auf den Eingang zu.
    »Hier störe ich doch keinen!« rief Boris mir hinterher. Es kam ein zweiter Tarzanschrei, der diesmal in einen Jodler auslief. Ich ging weiter, ohne mich umzudrehen. Erst als ich beim Eingang war, blieb ich stehen und wartete, um ihnen die schwere Glastür aufzuhalten.

    Wir gingen durch eine Art Vorraum mit einer Reihe von öffentlichen Fernsprechern und dann durch eine zweite Glastür in das Restaurant. Ein Duft

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