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Die Ungetroesteten

Titel: Die Ungetroesteten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kazuo Ishiguro
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rätselhaft? Ist es eine Überraschung? Und wir, wir Beobachter aus einer größeren, großzügigeren Welt, kratzen wir uns vor Verwirrung etwa am Kopf? Fragen wir uns etwa, wie es möglich ist, daß eine Stadt wie diese hier« – ich fühlte, wie mich jemand am Ärmel zupfte, aber ich wollte jetzt unbedingt loswerden, was ich zu sagen hatte – »daß eine Stadt, eine Gemeinde wie diese hier mit solch einer Krise konfrontiert ist? Sind wir erstaunt und verblüfft? Nein! Nicht einen Moment lang! Man kommt an, und was sieht man sofort überall um einen herum? Veranschaulicht, meine Damen und Herren, von Leuten wie Ihnen, ja, von Leuten wie Ihnen hier! Sie verkörpern – tut mir leid, wenn ich jetzt etwas ungerecht bin, wenn es noch ungeheuerlichere und gräßlichere Exemplare unter dem Gemäuer und Pflaster dieser Stadt geben sollte -, aber in meinen Augen sind Sie, mein Herr, und Sie, meine Dame, ja, sosehr ich es auch bedaure, Ihnen das sagen zu müssen, sind Sie typische Beispiele für alles, was hier so falsch läuft!« Die Hand, die mich am Ärmel zupfte, so wurde mir bewußt, gehörte einer der Frauen, zu denen ich gerade sprach und die aus irgendeinem Grund ihre Hand hinter dem Mann neben mir ausgestreckt hatte. Einen Moment lang sah ich in ihre Richtung, dann fuhr ich fort: »Zum einen fehlen Ihnen selbst die grundlegendsten Manieren. Sehen Sie sich doch nur an, wie Sie sich gegenseitig behandeln. Sehen Sie sich doch nur an, wie Sie meine Familie behandeln. Oder mich, eine berühmte Persönlichkeit, Ihren Gast, sehen Sie sich doch nur an, wie wichtig Sie Oskars Kunstsammlung nehmen. Mit anderen Worten: Sie sind besessen, ja regelrecht besessen von den kleinen internen Störungen in diesem Gebilde, das Sie Ihre Gemeinde nennen, viel zu besessen, um uns gegenüber auch nur das Mindestmaß an guten Manieren an den Tag zu legen.«
    Die Frau, die mich am Ärmel zupfte, kam jetzt herum, so daß sie genau hinter mir stand, und ich nahm wahr, daß sie in ihrem Bemühen, mich fortzuziehen, irgend etwas zu mir sagte. Ich ignorierte sie und fuhrt fort:
    »Und hierher, ausgerechnet hierher, was für eine grausame Ironie! Ja, ausgerechnet hierher müssen meine Eltern kommen. Ausgerechnet hierher, um mit Ihrer sogenannten Gastfreundschaft Bekanntschaft zu machen. Welch Ironie, welch Grausamkeit, ausgerechnet hierher müssen sie kommen, nach all diesen Jahren, an einen Ort wie diesen, zu Leuten wie Ihnen! Und meine armen Eltern, die von so weit her kommen, um mich zum allererstenmal bei einem Auftritt zu erleben! Glauben Sie etwa, es macht meine Aufgabe leichter, wenn ich gezwungen bin, sie in der Obhut von Leuten wie Ihnen und Ihnen und Ihnen zu lassen?«
    »Mr. Ryder, Mr. Ryder...« Die Frau an meinem Ellenbogen hatte inzwischen eine ganze Weile beharrlich an mir herumgezogen, und jetzt auf einmal sah ich, daß es sich um keine andere als Miss Collins handelte. Diese Erkenntnis nahm mir all meinen Schwung, und bevor ich noch wußte, wie mir geschah, war es ihr auch schon gelungen, mich von der Gruppe fortzuziehen.
    »Ach, Miss Collins«, sagte ich leicht verwirrt zu ihr. »Guten Abend.«
    »Wissen Sie, Mr. Ryder«, sagte Miss Collins und führte mich immer weiter weg, »ich muß schon sagen, ich bin wirklich überrascht. Ich meine, von der großen Faszination, die das alles auf die Leute ausgeübt hat. Eine Freundin hat mir eben erzählt, daß in der ganzen Stadt darüber geklatscht wird. Allerdings, so versichert sie mir, auf die denkbar freundlichste Weise. Aber ich weiß wirklich nicht, was die ganze Aufregung soll. Bloß weil ich heute in den Zoo gegangen bin! Ich verstehe das einfach nicht. Ich habe mich nur deshalb dazu bereit erklärt, weil sie mich davon überzeugt haben, es wäre im Interesse aller, wissen Sie, wenn Leo morgen abend Erfolg haben wird. Also habe ich mich bereit erklärt, dort zu sein, das ist auch schon alles. Und um ehrlich zu sein – ich nehme an, ich wollte Leo auch ein paar ermutigende Worte sagen, jetzt, wo er es so lange ohne Alkohol geschafft hat. Es schien mir nur gerecht, das in irgendeiner Weise anzuerkennen. Ich versichere Ihnen, Mr. Ryder, wenn er es zu irgendeinem anderen Zeitpunkt innerhalb der vergangenen zwanzig Jahre so lange ausgehalten hätte, ohne zu trinken, hätte ich genau dasselbe getan. Nur bis jetzt ist es eben nicht passiert. An meiner Anwesenheit im Zoo heute ist wirklich nichts Aufregendes gewesen.«
    Sie hatte aufgehört, an mir herumzuziehen, hatte den Arm aber

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