Die Ungetroesteten
wissen Sie, inzwischen merkt Boris allmählich etwas. Also wenn Sophie die Dinge nicht bald in den Griff bekommt, fürchte ich, daß der Junge ernsthaft verunsichert wird. Und im Moment bereitet er einem wirklich nur Freude. Er ist so offen und vertrauensvoll. Ich weiß, daß er unmöglich für den Rest seines Lebens so bleiben wird, und vielleicht wäre das ja auch gar nicht gut für ihn. Aber trotzdem – ich glaube, in seinem Alter sollte er noch ein paar Jahre lang glauben, daß die Welt ein Ort voller Sonnenschein und Lachen ist.« Er schwieg wieder und schien eine Weile tief in Gedanken versunken. Dann schaute er auf und fuhr fort: »Wenn Sophie nur begreifen würde, was da vor sich geht – ich weiß, dann würde sie die Dinge in den Griff bekommen. Im Grunde ihres Herzens ist sie sehr gewissenhaft, immer bestrebt, das Beste zu tun für die Menschen, die sie am meisten liebt. Aber mit Sophie ist es so, daß sie... na ja, wenn sie erst einmal in dem Zustand ist, braucht sie ein wenig Hilfe, um ihren Sinn für das richtige Maß wiederzubekommen. Ein ordentliches Gespräch, das ist eigentlich alles, was ihr fehlt. Einfach nur jemand, der sich ein paar Minuten mit ihr zusammensetzt und sie alles etwas klarer sehen läßt. Ihr dabei hilft festzustellen, wo die eigentlichen Schwierigkeiten liegen, ihr zeigt, mit welchen Strategien sie ihre Probleme bewältigen kann. Mehr fehlt ihr gar nicht, ein ordentliches Gespräch, etwas, das ihr wieder den Blick für die richtigen Verhältnisse eröffnet. Den Rest macht sie dann schon allein. Sie kann sehr vernünftig sein, wenn sie nur will. Na ja, und damit bin ich eigentlich schon beim springenden Punkt. Wenn Sie jetzt zufällig in die Altstadt gehen, habe ich mir gedacht, es macht Ihnen vielleicht nichts aus, kurz mal mit Sophie zu reden. Mir ist natürlich klar, daß ich Ihnen damit wohl Ungelegenheiten bereite, aber wenn Sie sowieso hingehen, habe ich mir gedacht, ich könnte Sie ja wenigstens mal fragen. Sie müßten auch gar nicht lange mit ihr reden. Bloß eine kurze Unterhaltung, bloß um herauszufinden, was ihr solche Sorgen macht, und um ihr wieder zum Sinn für das richtige Maß zu verhelfen.«
Der Hoteldiener schwieg und sah mich bittend an. Nach einer Weile antwortete ich seufzend:
»Ich würde wirklich gern helfen, das können Sie mir glauben. Aber wenn ich so höre, was Sie mir da erzählen, habe ich stark den Eindruck, daß Sophies Probleme, was auch immer dahinterstecken mag, höchstwahrscheinlich mit Familienangelegenheiten zu tun haben. Und wie Sie wissen, sind solche Probleme oft sehr verwickelt und kompliziert. Ein Außenstehender wie ich kommt in einem offenen Gespräch womöglich der einen Sache auf den Grund, muß dann aber feststellen, daß diese Sache mit noch einem anderen Problem zusammenhängt. Und so weiter und so weiter. Also, wenn Sie meine ehrliche Meinung hören wollen – ich hätte jetzt gedacht, daß Sie diese verstrickten Familienangelegenheiten mit ihr besprechen sollten. Als Sophies Vater und als Großvater des Jungen verfügen Sie doch schließlich über eine natürliche Autorität, die mir ganz einfach fehlt.«
Der Hoteldiener schien sofort das Gewicht dieser Worte zu verspüren, und fast tat es mir schon leid, so gesprochen zu haben. Ganz offensichtlich hatte ich einen wunden Punkt berührt. Er drehte sich etwas von mir weg und starrte eine ganze Weile mit leerem Blick durch das Atrium in Richtung Brunnen. Schließlich sagte er:
»Ich weiß Ihren Rat zu schätzen. Von Rechts wegen ist es ja auch tatsächlich so, daß ich mit ihr reden sollte, das sehe ich ja ein. Also, ich will ganz aufrichtig sein – ich weiß nicht genau, wie ich es sagen soll -, aber ich will wirklich ganz aufrichtig Ihnen gegenüber sein. Die Wahrheit ist, Sophie und ich sprechen schon seit Jahren nicht mehr miteinander. Schon ungefähr seit der Zeit, als sie noch ein Kind war. Also können Sie sich denken, daß es für mich ziemlich schwierig ist, zu tun, was getan werden muß.«
Der Hoteldiener sah auf seine Füße hinunter und schien auf meine nächste Äußerung wie auf ein Urteil zu warten.
»Tut mir leid«, sagte ich nach einer Weile, »aber ich weiß nicht, ob ich Sie wirklich richtig verstanden habe. Wollen Sie sagen, Sie haben Ihre Tochter all diese Jahre nicht gesehen?«
»Nein, nein. Sie wissen doch, ich sehe sie ganz regelmäßig, immer wenn ich ihr Boris abnehme. Ich wollte sagen, daß wir nicht miteinander reden. Vielleicht verstehen Sie es
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