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Die Ungetroesteten

Titel: Die Ungetroesteten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kazuo Ishiguro
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habe, und ich bin willens und bereit, es dabei zu belassen.«
    »Aber Miss Collins, ganz bestimmt sollten Sie die gegenwärtige Lage doch wenigstens sorgfältig bedenken. Ich sehe nicht ein, wieso Sie es nach all Ihren guten Taten nicht als großartige Belohnung betrachten, Ihren Lebensabend mit dem Mann verbringen zu können, der – verzeihen Sie -, mit dem Mann, für den Sie ja doch wohl noch in gewisser Weise Liebe empfinden. Ich sage das, weil, nun ja, warum sonst sind Sie wohl all die Jahre in dieser Stadt geblieben? Warum sonst haben Sie nie eine neue Ehe in Erwägung gezogen?«
    »Oh, ich habe neue Eheschließungen in Erwägung gezogen, Mr. Ryder. Im Laufe der Jahre hat es wenigstens drei Männer gegeben, für die ich mich hätte entscheiden können. Aber sie... sie waren nicht die richtigen. Vielleicht ist tatsächlich etwas Wahres an dem, was Sie sagen. Leo war immer in der Nähe, und das hat es mir unmöglich gemacht, genug für diese anderen zu empfinden. Na, jedenfalls rede ich über längst vergangene Zeiten. Sie wollen wissen, und das ist wohl auch verständlich, wieso ich meinen Lebensabend nicht mit Leo verbringen sollte. Tja, überlegen wir doch mal einen Augenblick. Gerade im Moment ist Leo nüchtern und ruhig. Aber wird das lange so bleiben? Vielleicht. Die Chance besteht immerhin, das muß ich ihm schon zugestehen. Besonders wenn er jetzt hier Anerkennung findet und wieder eine berühmte Persönlichkeit wird und große Verantwortung tragen darf. Aber wenn ich mich bereit erkläre, zu ihm zurückzukehren, na ja, dann wäre alles wieder ganz anders. Bald schon würde er sich entschließen, wieder zu zerstören, was er sich aufgebaut hat, genau wie vorher schon einmal. Und was würde das für alle hier bedeuten? Was würde das für die Stadt bedeuten? Tatsächlich glaube ich, Mr. Ryder, daß ich der Öffentlichkeit gegenüber verpflichtet bin, seinen Vorschlag nicht anzunehmen.«
    »Verzeihung, Miss Collins, aber ich habe einfach das Gefühl, daß Sie von Ihren eigenen Argumenten nicht so sehr überzeugt sind, wie Sie das gerne wären. Daß Sie irgendwo tief in Ihrem Innern die ganze Zeit darauf gewartet und immer weiter gewartet haben, Ihr Leben mit Mr. Brodsky wiederaufnehmen zu können. Daß Sie all Ihre guten Taten, für die Ihnen die Leute hier in der Stadt zweifellos ewig dankbar sein werden, trotzdem im wesentlichen nur als etwas gesehen haben, mit dem Sie sich beschäftigen konnten, während Sie gewartet haben.«
    Miss Collins neigte den Kopf und dachte mit amüsiertem Lächeln über meine Worte nach.
    »Vielleicht ist etwas Wahres an dem, was Sie da sagen, Mr. Ryder«, erwiderte sie schließlich. »Vielleicht ist es mir gar nicht so bewußt geworden, wie schnell die Zeit verging. Erst kürzlich, eigentlich erst im vergangenen Jahr, ist mir klargeworden, daß die Zeit immer weiter davonläuft. Daß wir beide alt werden und daß es wahrscheinlich zu spät ist, das wiederfinden zu wollen, was wir einmal hatten. Ja, möglicherweise haben Sie recht. Als ich ihn das erste Mal verließ, habe ich das nicht als so endgültig angesehen. Aber habe ich tatsächlich gewartet , wie Sie behaupten? Das weiß ich wirklich nicht. Ich habe nur von einem Tag zum nächsten gelebt. Und jetzt muß ich feststellen, daß die Zeit uns davongelaufen ist. Aber wenn ich mir jetzt alles so betrachte, mein Leben und was ich daraus gemacht habe, scheint es mir gar nicht so schlecht zu sein. Ich möchte so weitermachen, so wie die Dinge jetzt im Moment sind. Warum soll ich mich an Leo und sein Haustier binden? Das würde wirklich viel zuviel Unordnung in mein Leben bringen.«
    Ich wollte gerade noch einmal auf die denkbar sanfteste Weise meinen Zweifel zum Ausdruck bringen, daß sie wirklich alles glaubte, was sie da sagte, als mir klarwurde, daß Boris nah bei meinem Ellenbogen stand.
    »Wir müssen jetzt bald nach Hause«, sagte er. »Mutter wird langsam ziemlich unruhig.«
    Ich schaute zu der Stelle, auf die er deutete. Sophie stand nur wenige Schritte weit weg von dem Fleck, an dem ich sie vorhin zurückgelassen hatte, ganz allein stand sie da und sprach mit niemandem. Sie lächelte gequält, obwohl keiner da war, der ihr Lächeln sehen konnte. Sie hatte die Schultern nach vorn gezogen, und ihr Blick schien auf die Schuhe der Gruppe von Gästen in ihrer Nähe geheftet zu sein.
    Die Lage war eindeutig hoffnungslos. Ich zügelte meine Wut, die ich auf alle hier empfand, und sagte zu Boris: »Ja, du hast recht. Wir gehen

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