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Die Ungetroesteten

Titel: Die Ungetroesteten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kazuo Ishiguro
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jetzt besser. Bring deine Mutter hierher. Wir wollen versuchen, uns fortzuschleichen, ohne daß die Leute etwas merken. Schließlich sind wir hiergewesen, also kann sich keiner beschweren.«
    Vom gestrigen Abend her wußte ich noch, daß das Haus an das Hotel grenzte. Während Boris in der Menge verschwand, drehte ich mich zu der Wand um, an der sich eine Tür an die andere reihte, und versuchte, mich daran zu erinnern, welche dieser Türen Stephan Hoffman und mich zum Hotelkorridor geführt hatte. Doch gerade in dem Augenblick fing Miss Collins, die mich immer noch am Arm hielt, wieder an zu reden und sagte:
    »Wenn ich ehrlich, wenn ich absolut ehrlich sein müßte, dann könnte ich nicht umhin, es zuzugeben. Ja, in meinen weniger vernünftigen Momenten habe ich davon geträumt.«
    »Aha, und wovon, Miss Collins?«
    »Na ja, von allem eben. Von allem, was jetzt hier passiert. Davon, daß sich Leo zusammenreißt, daß er hier in der Stadt die Stellung einnimmt, die er auch verdient hat. Davon, daß alles wieder in Ordnung kommt, daß die schrecklichen Jahre für immer hinter uns liegen. Ja, ich muß es zugeben, Mr. Ryder. Tagsüber klug und vernünftig zu sein, ist eine Sache. Aber in der Nacht, da sieht es ganz anders aus. In all diesen Jahren ist es oft genug vorgekommen, daß ich in der Dunkelheit, in den frühen Morgenstunden, aufgewacht bin und dann wachgelegen und mir das vorgestellt habe, mir vorgestellt habe, daß genau so etwas passieren würde. Und jetzt passiert es tatsächlich, und das ist ziemlich verwirrend. Aber andererseits, sehen Sie, passiert es nicht wirklich. Oh, Leo mag durchaus in der Lage sein, hier etwas zu erreichen, er ist einmal sehr talentiert gewesen, und das kann ja nicht alles so einfach verfliegen. Und es stimmt schon, daß er früher dort, wo wir gewesen sind, keine Chance, keine wirkliche Chance gehabt hat. Aber was uns beide angeht, ist es einfach zu spät. Was auch immer er sagt, es ist definitiv zu spät.«
    »Ach, Miss Collins, ich würde wirklich gerne noch weiter mit Ihnen darüber reden. Aber leider muß ich jetzt unbedingt gehen.«
    Tatsächlich sah ich, noch während ich das sagte, Sophie und Boris durch den Raum auf mich zukommen. Ich machte mich von Miss Collins los und betrachtete noch einmal die Auswahl an Türen, dabei trat ich ein wenig zurück, um auch die zu sehen, die hinter der Biegung des Raumes verdeckt lagen. Als ich sie alle der Reihe nach begutachtete, kamen sie mir alle irgendwie bekannt vor, doch ich mußte feststellen, daß ich mir bei keiner von ihnen sicher war. Mir kam der Gedanke, ich könne jemanden um Rat bitten, doch aus Angst, zuviel Aufmerksamkeit auf unser frühes Fortgehen zu lenken, entschied ich mich dagegen.
    Ich führte Sophie und Boris zu den Türen, doch nach wie vor war die Lage verzwickt. Aus irgendeinem Grund kamen mir zahlreiche Szenen aus Filmen in den Sinn, in denen eine Figur, die auf eindrucksvolle Weise einen Raum verlassen wollte, schwungvoll die falsche Tür öffnet und in einen Wandschrank geht. Obwohl ich genau den entgegengesetzten Wunsch hatte – ich wollte, daß wir so unauffällig wie nur möglich gingen, daß niemand, wenn man hinterher darüber redete, mit Bestimmtheit sagen könnte, wann genau wir uns verabschiedet hatten -, war es für mich von genauso entscheidender Bedeutung, solch eine Katastrophe zu vermeiden.
    Schließlich entschied ich mich für die Tür, die sich genau in der Mitte der Wand befand, und zwar einfach deshalb, weil sie am eindrucksvollsten aussah. Die tiefen Türfüllungen waren mit Perlmuttintarsien geschmückt, und steinerne Säulen standen zu beiden Seiten. Und gerade in diesem Augenblick befanden sich vor den Säulen Kellner in Livree, so steif und starr wie sonst nur Wachen. Ein Durchgang von solchem Prestige führte sicher, so überlegte ich, wenn schon nicht direkt in das Hotel, so doch wenigstens zu einem irgendwie bedeutungsvollen Ort, von dem aus wir uns abseits der Augen der Öffentlichkeit unseren Weg bahnen könnten.
    Ich bedeutete Sophie und Boris mit einem Zeichen, mir zu folgen, und schlenderte Richtung Tür, und indem ich einem der Männer in Livree kurz zunickte, als wollte ich sagen: »Kein Grund, sich zu regen, ich weiß schon, was ich tue«, öffnete ich die Tür. Daraufhin trat zu meinem Entsetzen genau das ein, was ich am meisten befürchtet hatte: Ich hatte die Tür zu einer Besenkammer geöffnet, noch dazu die Tür einer Besenkammer, die über ihr Fassungsvermögen hinaus

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