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Die Ungetroesteten

Titel: Die Ungetroesteten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kazuo Ishiguro
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werdet euch bestimmt gut amüsieren. Tja dann...« Gustav schwieg einen Moment. Dann sagte er: »Ich mache jetzt wohl besser mit meiner Arbeit weiter. Wir haben im Augenblick ganz schön viel zu tun.«
    »Ja«, sagte Boris leise.
    Gustav fuhr Boris durchs Haar. Dann beugte er sich erneut weit nach vorn und fing wieder an, das Gepäck hinter sich herzuziehen. Ich streckte eine Hand in die Richtung des Jungen aus und zog ihn beiseite, Gustav aus dem Weg. Ob aufgrund der Tatsache, daß wir zusahen oder weil die kurze Pause einen Teil seiner Kräfte wiederhergestellt hatte, jedenfalls schien der Hoteldiener diesmal besser voranzukommen, als er hinter uns in der Dunkelheit verschwand. Ich machte mich daran, wieder Richtung Hotelhalle vorauszugehen, aber Boris wollte nicht mitkommen, sondern starrte den Korridor hinunter, dorthin, wo die weit vornübergebeugte Gestalt seines Großvaters noch zu sehen war.
    »Na komm, wir wollen uns beeilen«, sagte ich und legte ihm einen Arm um die Schulter. »Wir bekommen allmählich großen Hunger.«
    Ich wollte gerade weitergehen, als ich Sophie hinter mir sagen hörte: »Nein, hier geht es lang.« Ich drehte mich um und sah, daß sie sich zu einer kleinen Tür hinunterbeugte, die ich vorher nicht bemerkt hatte. Und hätte ich sie überhaupt bemerkt, hätte ich sicher nicht angenommen, daß sie irgend etwas anderes als die Tür zu einem Wandschrank sei, denn sie reichte mir kaum bis zu den Schultern. Dennoch hielt Sophie die Tür jetzt auf, und mit dem Gesichtsausdruck von jemandem, der das schon viele Male getan hatte, ging Boris hindurch. Sophie hielt die Tür noch auf, und nach kurzem Zögern bückte auch ich mich und kletterte Boris hinterher.
    Ich hatte schon halbwegs damit gerechnet, mich in einem Tunnel wiederzufinden, durch den ich auf Händen und Knien kriechen müßte, doch tatsächlich stand ich in einem weiteren Korridor. Und der war sogar noch geräumiger als der, den wir gerade verlassen hatten, wenn er auch ganz offensichtlich nur dem Personal vorbehalten war. Es gab keinen Teppichboden, und unverkleidete Rohre liefen die Wände entlang. Wir befanden uns wieder in einer Art Halbdunkel, nur etwas weiter hinten fiel ein Lichtstreifen auf den Boden. Wir gingen ein Stück weit auf das Licht zu, dann blieb Sophie stehen und stieß eine Brandschutztür auf. Im nächsten Moment standen wir draußen, in einer ruhigen kleinen Seitenstraße.
    Es war eine herrliche Nacht mit vielen Sternen am Himmel. Ich schaute die Straße hinunter und sah, daß sie menschenleer war und daß alle Geschäfte geschlossen hatten. Als wir losgingen, sagte Sophie leichthin:
    »Das war aber eine Überraschung, was, daß wir Großvater eben getroffen haben, nicht wahr, Boris?«
    Boris antwortete nicht. Mit großen Schritten ging er uns voran und murmelte vor sich hin.
    »Du mußt großen Hunger haben«, sagte Sophie zu mir. »Ich hoffe bloß, es ist genug da. Ich habe mich vorhin so richtig hinreißen lassen, als ich all diese Sachen vorbereitet habe, und deshalb habe ich ganz vergessen, ein richtiges Hauptgericht zu machen. Heute nachmittag habe ich noch gedacht, es wird genug sein, aber wenn ich jetzt so darüber nachdenke...«
    »Sei nicht albern, das wird alles ganz wunderbar sein«, erwiderte ich. »Genau danach steht mir heute sowieso der Sinn. Lauter Kleinigkeiten, eine nach der anderen. Ich kann gut verstehen, warum Boris das gerne ißt.«
    »Mutter hat es immer so für uns gemacht, als ich noch klein war. Zu unseren besonderen Abenden. Nicht zum Geburtstag oder zu Weihnachten, da haben wir immer dasselbe gemacht wie die anderen Leute auch. Sondern an den Abenden, die etwas ganz Besonderes für uns sein sollten, nur für uns drei hat Mutter das dann immer gemacht. Lauter köstliche Kleinigkeiten, eine nach der anderen. Aber dann sind wir umgezogen, und Mutter ging es dann nicht mehr so gut, und danach haben wir es dann nicht mehr so oft gemacht. Ich hoffe, ich habe genug für dich. Ihr beide müßt einen solchen Hunger haben.« Dann fügte sie unvermittelt hinzu: »Es tut mir leid. Ich habe keinen großen Eindruck gemacht heute abend, oder?«
    Ich sah sie wieder vor mir, wie sie hilflos ganz allein mitten in der Menge stand, und ich streckte die Hand aus und legte einen Arm um sie. Sie preßte sich eng an mich, und während der nächsten Minuten gingen wir schweigend so weiter, durch eine Reihe von menschenleeren kleinen Seitenstraßen. Einmal kam Boris an unsere Seite und fragte:
    »Kann ich

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