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Die Ungetroesteten

Titel: Die Ungetroesteten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kazuo Ishiguro
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heute abend auf dem Sofa essen?«
    Sophie überlegte kurz und sagte dann: »Na ja, schön, bei diesem Essen, na ja, da geht das.«
    Boris ging noch eine Weile neben uns her und fragte dann: »Kann ich auf dem Fußboden essen?«
    Sophie lachte. »Aber nur heute abend, Boris. Morgen beim Frühstück mußt du wieder am Tisch sitzen.«
    Darüber schien sich Boris zu freuen, und begeistert lief er uns voraus.
    Schließlich blieben wir vor einer Tür stehen, die zwischen einem Friseurgeschäft und einer Bäckerei eingezwängt war. Die Straße war sehr schmal und wirkte durch die vielen Autos, die auf dem Bürgersteig parkten, noch schmaler. Während Sophie den passenden Schlüssel suchte, schaute ich hoch und sah, daß es über den Läden vier weitere Stockwerke gab. Hinter einigen Fenstern brannte Licht, und undeutlich war ein laufender Fernseher zu hören.
    Ich folgte den beiden zwei Etagen hinauf. Als Sophie die Wohnungstür aufschloß, kam mir der Gedanke, daß man vielleicht von mir erwartete, mich so zu benehmen, als sei ich mit der Wohnung vertraut. Andererseits war es genausogut möglich, daß man von mir erwartete, mich wie ein Gast zu verhalten. Als wir hineingingen, beschloß ich, Sophies Verhalten sorgfältig zu beobachten und mich danach zu richten. Es kam dann so, daß Sophie, kaum daß sie die Tür hinter uns geschlossen hatte, ankündigte, sie müsse den Ofen anmachen, und irgendwo in der Wohnung verschwand. Boris seinerseits warf seine Jacke weg, rannte davon und ahmte dabei das Geräusch einer Polizeisirene nach.
    Allein im Flur zurückgelassen, nahm ich die Gelegenheit wahr, mir meine Umgebung genau anzuschauen. Es konnte wohl keinen Zweifel daran geben, daß Sophie und Boris von mir erwarteten, daß ich mich hier auskannte, und tatsächlich, je länger ich dastand und die verschiedenen halboffenen Türen vor mir, die schäbige gelbe Tapete mit dem verblaßten Blumenmuster und die nackten Rohre anschaute, die hinter der Garderobe vom Boden bis zur Decke liefen, desto mehr spürte ich, daß mir allmählich wieder eine Erinnerung an diesen Flur kam.
    Nach ein paar Minuten ging ich in das Wohnzimmer durch. Obwohl es dort etliches gab, was ich nicht wiedererkannte – die zwei alten, eingesunkenen Sessel zu beiden Seiten des nicht mehr benutzten Kamins waren zweifellos Erwerbungen aus jüngerer Zeit -, hatte ich den Eindruck, daß ich mich an diesen Raum deutlicher als an den Flur erinnern konnte. Der große, ovale Eßzimmertisch, der an die Wand gerückt worden war, die zweite Tür, die in die Küche führte, das dunkle, unförmige Sofa, der abgenutzte orangefarbene Teppich, all das war mir durchaus vertraut. Die Deckenleuchte – eine einzelne Glühbirne mit einem Lampenschirm aus Chintz – überzog alles mit einem schattigen Muster, so daß ich nicht sicher war, ob sich auf der Tapete nicht hier und da feuchte Flecken zeigten. Boris lag mitten im Zimmer auf dem Fußboden und rollte sich auf den Rücken, als ich weiter hereinkam.
    »Ich habe beschlossen, ein Experiment zu versuchen«, verkündete er, in Richtung Decke ebenso wie in meine Richtung. »Ich werde meinen Kopf jetzt so halten.«
    Ich schaute hinunter und sah, daß er den Kopf eingezogen hatte, so daß sein Kinn auf dem Schlüsselbein lag.
    »Aha. Und wie lange willst du das machen?«
    »Mindestens vierundzwanzig Stunden.«
    »Sehr schön, Boris.«
    Ich kletterte über ihn hinweg und ging in die Küche. Es war ein langer schmaler Raum, der mir ebenfalls eindeutig vertraut vorkam. Die rußigen Wände, die Spinnwebreste an den Dekkenleisten, die schäbige Waschmaschine, all das nagte bohrend an meinem Gedächtnis. Sophie hatte sich eine Schürze umgebunden und kniete auf dem Boden, um etwas in dem Ofen zurechtzuschieben. Sie schaute hoch, als ich hereinkam, machte eine Bemerkung über das Essen, deutete in den Ofen und lachte fröhlich. Auch ich lachte, dann schaute ich mich noch einmal in der Küche um und ging wieder in das Wohnzimmer zurück.
    Boris lag immer noch auf dem Boden, und als ich hereinkam, zog er sofort den Kopf wieder ein. Ich beachtete ihn gar nicht und setzte mich auf das Sofa. Ganz in der Nähe lag eine Zeitung auf dem Teppich, und ich hob sie auf, weil ich dachte, es könnte die Zeitung mit den Fotos von mir sein. Zwar war sie schon mehrere Tage alt, doch ich wollte sie trotzdem durchblättern. Während ich den Artikel auf der Titelseite las – dieser von Winterstein wurde über seine Pläne zur Erhaltung der Altstadt befragt

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